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Nachruf
Wolfgang Gerhardt – ein Mann von Bildung

Ein Nachruf von Prof. Dr. Ewald Grothe
Wolfgang Gerhardt

Wolfgang Gerhardt, Ehrenvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Staatsminister a.D., ehem. MdB

© FNF

Als Liberaler wird man nicht geboren, aber es gibt Situationen in der frühen Kindheit und in der elterlichen Erziehung, die einen Menschen liberal „imprägnieren“. So hat es Wolfgang Gerhardt, der am letzten Tag des Kriegsjahres 1943 in Helpershain im hessischen Vogelsberg geboren wurde, in seinen Erinnerungen überzeugend und nachvollziehbar dargelegt. 1965, im Alter von gerade einmal 22 Jahren, trat er als Student der Erziehungswissenschaften, Germanistik und Politik an der Philipps-Universität Marburg in die Freie Demokratische Partei (FDP) ein. Das waren aufregende Zeiten damals, denn der Auschwitz-Prozess vor dem Frankfurter Landgericht prägte das politische Klima der noch vergleichsweise jungen Bundesrepublik, und an der Marburger Universität herrschte ein gegenüber dem Liberalismus eher skeptisch-kritisches Klima. Da bedurfte es schon eines bewussten Schrittes, sich liberal zu bekennen. Aber an Mut zur politischen Stellungnahme hat es Wolfgang Gerhardt zeitlebens nicht gefehlt. So engagierte er sich Mitte der sechziger Jahre nicht nur in der Partei, sondern auch beim Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) und bei den hessischen Jungdemokraten. 1970 schloss er sein Studium mit einer Dissertation über die Bildungspolitik der FDP nach 1945 bei dem Erziehungswissenschaftler Leonard Froese ab.

Den Absprung ins politische Leben hatte Gerhardt bereits ein Jahr zuvor gewagt, denn 1969 hatte er eine Tätigkeit als Leiter des Regionalbüros Hannover der Friedrich-Naumann-Stiftung begonnen, wechselte dann als Leiter der Inlandsabteilung der Stiftung nach Bonn, ehe er 1970 zunächst als persönlicher Referent des hessischen Innenministers Hanns-Heinz Bielefeld und als Leiter seines Ministerbüros tätig wurde. Bis 1978 in dieser Funktion und danach als Abgeordneter des Hessischen Landtags verbrachte Gerhardt beruflich in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, die auch privat bis zu seinem Tod seine Heimat blieb. In der Landespolitik zählten unter anderem Ruth Wagner und Ekkehard Gries zu seinen engsten Parteifreunden. Mit Unterbrechungen saß er in drei Legislaturperioden zwischen 1978 und 1994 im Hessischen Landtag und war dort zuletzt FDP-Fraktionschef. Zudem leitete er von 1982 bis 1995 die hessische Landespartei. 1987 wurde er dann zum hessischen Minister für Wissenschaft und Kunst, Bevollmächtigter des Landes Hessen beim Bund und Stellvertretender des CDU-Ministerpräsidenten Walter Wallmann ernannt. Dieses Amt musste er allerdings 1991 aufgeben, als die CDU/FDP-Koalition die Landtagswahlen verlor und eine rot-grüne Landesregierung in Wiesbaden zustande kam.

1994 wechselte Wolfgang Gerhardt in die Bundespolitik und zog in den Deutschen Bundestag ein. Helmut Kohl war damals noch vier Jahre Bundeskanzler, und die FDP befand sich in einer konservativ-liberalen Koalition. Nur ein Jahr später, 1995, wurde Gerhardt als Nachfolger von Klaus Kinkel in einer nicht ganz leichten Zeit für die FDP zum Parteivorsitzenden gewählt. So kam es 2000 zu einem schwerwiegenden Konflikt mit der hessischen Landespartei, als Gerhardt nach der Spendenaffäre der hessischen CDU auf eine Beendigung der Koalition in Hessen drängte, aber den Machtkampf gegen den Landesverband und dessen Vorsitzende Ruth Wagner verlor. 2001 gab er den Vorsitz der Bundespartei an Guido Westerwelle ab. Es handelte sich ohne Zweifel um einen echten Generationswechsel innerhalb der FDP, der zur damaligen Zeit nicht unumstritten war. Seit 1998 war Gerhardt in der Nachfolge von Wolfgang Mischnick und Hermann Otto Solms bereits Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Das war eine Aufgabe, die ihm sehr viel Respekt einflößte, zugleich aber eine politische Herausforderung darstellte, die er pflichtbewusst und eifrig ausfüllte. 2005 war er im Falle einer Regierungsbeteiligung der FDP als Bundesaußenminister vorgesehen und hätte damit ein Amt übernommen, das seit 1969 traditionell liberal besetzt war. Trotz des Zugewinns der FDP um 2,4 % kam es nicht zur Regierungsbeteiligung, sondern zur Bildung der Großen Koalition im Bund unter der neuen Kanzlerin Angela Merkel. Den Fraktionsvorsitz und damit die Rolle als Oppositionsführer gab er 2006 nach nur einem halben Jahr an Westerwelle ab. 2013 endete seine Arbeit im Deutschen Bundestag mit dem überraschenden Ausscheiden der FDP aus dem Parlament.

Aber aufs Altenteil wollte sich Gerhardt nach dem Ende seiner Zeit als Politiker noch lange nicht begeben. Vielmehr hatte er bereits 2006 im Alter 63 Jahren den Vorsitz der Friedrich-Naumann-Stiftung übernommen. Im Grunde kehrte er damit nach fast vier Jahrzehnten wieder zur Bildungsarbeit zurück, die ihn seit seinem Studium beschäftigt hatte. Wichtig war ihm seine langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kuratoriumsvorsitzenden Jürgen Morlok und dem Geschäftsführenden Vorstandsmitglied Rolf Berndt. 2014 leitete Gerhardt einen Führungswechsel in der Stiftung ein, indem die Hauptgeschäftsführung von dem früheren hessischen Staatssekretär Steffen Saebisch übernommen wurde.

Bis 2018, und damit insgesamt zwölf Jahre, leitete Wolfgang Gerhardt die Naumann-Stiftung als Vorstandsvorsitzender. Es war eine überaus prägende Periode, die er dafür nutzte, den Begriff der „Freiheit“ als von zentraler Bedeutung zu verankern und ihn geradezu leitmotivisch zum Motto der Stiftungsarbeit zu erheben. Auch in den Jahren nach 2018, inzwischen als Ehrenvorsitzender, ließ Gerhardt seine Arbeit für die politische Bildung nicht ruhen und inspirierte weiterhin die Geschicke der Stiftung. Noch Anfang dieses Jahres wurde „der Liberale mit Stil und Leidenschaft“ anlässlich der Feier seines 80. Geburtstages für seine Arbeit allseits gewürdigt. Als Mann von Bildung wird er uns im Gedächtnis bleiben.