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Freiheitspreis
"Die Finsternis über Russland wird sich auflösen"

Laudatio von Dr. Marco Buschmann bei der Verleihung des Freiheitspreises 2024 der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit an den russischen Oppositionspolitiker Vladimir Kara-Murza am 16. November 2024 in der Frankfurter Paulskirche.
Dr. Marco Buschmann bei der Verleihung des Freiheitspreises 2024

Dr. Marco Buschmann bei der Verleihung des Freiheitspreises 2024.

© Kian Bonanno, aqua production

Am 16. November 2024 hielt Dr. Marco Buschmann in der Frankfurter Paulskirche eine Laudatio an den russischen Oppositionspolitiker Vladimir Kara-Murza anlässlich der Verleihung des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung. Es gilt das gesprochene Wort.

 

Lieber Vladimir Kara-Murza, liebe Evgenia Kara-Murza, lieber Karl-Heinz Paqué, liebe Frau Rinn, meine sehr verehrten Damen und Herren!

 

Mit ein paar Worten Herodots möchte ich beginnen:

„So wenig sich der Himmel je unter die Erde senken […] wird, so wenig könnt ihr […] Freiheit und Gleichheit aufheben und anfangen Tyrannenherrschaft in den Staaten einzuführen. Es gibt nichts auf der Welt, woran mehr Ungerechtigkeit und Blut klebt.“

Diese Worte mögen alt sein.

Doch ihr Inhalt beschreibt den ewigen Kampf zwischen Freiheit und Gleichheit einerseits und ungehemmter, von Hybris betrunkener Tyrannenherrschaft andererseits, der bis heute anhält. Und daher ist dieser Inhalt brennend aktuell. Denn er beschreibt den Systemgegensatz zwischen dem, was wir heute liberale Demokratie und Diktatur nennen.

Wo könnte man diese Worte besser sagen als hier in der Paulskirche - diesem Gotteshaus, das zugleich eine Kathedrale der deutschen Freiheitsbewegung ist. Zu welchem Anlass könnte man diese Worte besser sagen als bei der Verleihung des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Und in Anwesenheit welcher Persönlichkeit könnte man diese Worte heute besser sagen als in Ihrer, lieber Vladimir Kara-Murza!

Es ist mir eine große Ehre, heute mit Vladimir Kara-Murza einen Mann zu würdigen, dessen Kampf für die Freiheit und gegen Tyrannei schon längst historisches Format besitzt.

Wer sich mit diesem Mann beschäftigt, steht demütig vor seinem außerordentlichen Mut, vor seiner großen Unerschrockenheit. Ich will einige Stationen auf Vladimir Kara-Murzas mutigem Weg skizzieren:

Geboren wurde er 1981 in Moskau; aufgewachsen ist er mit seiner Mutter in London; Geschichte hat er in Cambridge studiert und abgeschlossen.

Früh war er Journalist in England, dann in den Vereinigten Staaten – stets als Kritiker der russischen Regierung und Putins persönlich: als London-Korrespondent verschiedener russischer Medien, auch etwa als Washington-Korrespondent für die BBC. Er war Dokumentarfilmer in dieser regimekritischen Mission – und seit der Jahrtausendwende auch Mitglied verschiedener russischer Oppositionsparteien. Er hat sich „Open Russia“, der Stiftung des Kreml-Kritikers Michail Chodorkowski, zur Verfügung gestellt und war Berater seines Freundes Boris Nemzow.

Gemeinsam mit Nemzow hat er 2004 einen Artikel geschrieben. Er trug den Titel „Über die Gefahr des Putinismus“. Das ist bemerkenswert. Denn hier zeigt sich Vladimir Kara-Murzas historisch geschulte Sensibilität für die Tyrannei. Denn in eben jenem Jahr 2004 hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder noch davon gesprochen, dass Putin ein „lupenreiner Demokrat“ sei. Kara-Murza und Nemzow dagegen haben schon vor zwanzig Jahren den Weg zur uneingeschränkten Diktatur Putins klar vorausgesehen.

Es wäre zu einfach und auch einfach falsch, diese Blindheit für die aufziehende Tyrannei in Russland allein Schröder anlasten zu wollen. Natürlich ist er das augenfälligste Beispiel. Aber die Wahrheit ist auch: Zwar haben manche später auch bei uns gewarnt. Aber viele in Deutschland wollten nicht wahrhaben, was Kara-Murza und Nemzow längst erkannt hatten.

Zu groß war die Hoffnung, dass gute wirtschaftliche Beziehungen wie von selbst als Transmissionsriemen für die Prinzipen guter Regierungsführung dienen – also, dass mit den Gewinnen in den Bilanzen auch automatisch ein Gewinn an Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten einherginge.

Zu groß war bei einigen vielleicht auch überhaupt nur der Wunsch nach Gewinnen – egal um welchen Preis. Die Gier ist zwar älter als die Tyrannei, ihr aber stets ein enger Verbündeter gewesen.

Und zu groß war vielleicht auch einfach der Wunsch, „business as usual“ zu betreiben, keine Scherereien haben zu wollen und sich einfach weiter im Strom der Weltgesichte mit Durchwursteln und „muddling through“ über Wasser zu halten.

Als sich unsere osteuropäischen Nachbarn längst bedroht gefühlt haben, da gingen wir Deutschen über deren Ängste und Warnungen einfach hinweg. Selbst als unsere NATO-Partner an uns appelliert haben, da hörten wir weg. 

Ich möchte hier sagen: Dass wir Deutschen so lange die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen haben, das erfüllt mich heute mit großer Scham. Mit noch größerer Scham erfüllt mich, dass sich das nicht einmal im Jahr 2014, dem Jahr der Annexion der Krim durch Russland, grundlegend geändert hat. Ganz im Gegenteil: Es kam sogar zu Nordstream 2.

Aus diesem Versagen folgt heute eine besondere Verantwortung für die Ukraine, für die Sicherheitsinteressen unserer osteuropäischen Nachbarn, aber auch für diejenigen Menschen in Russland, die weiter für ihren Traum eines demokratischen Russlands der Zukunft arbeiten – und dieser Verantwortung müssen wir als Deutschland nachkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Boris Nemzow bracht sein Mut den Tod. Am 27. Februar 2015 ist er in Moskau ermordet worden. Spätestens jetzt musste allen klar sein, dass jede und jeder, die sich Putin in Russland entgegenstellt, mit dem schlimmsten rechnen muss.

Wenn die freie Meinung zu einer Sache von Leben und Tod wird, dann ist die Tyrannei unübersehbar.

Vladimir Kara-Murza hat den Kampf gegen diese Tyrannei trotz Lebensgefahr weiter fortgesetzt. Der russische Inlandsgeheimdienst war auf ihn angesetzt. Seine Frau und seine drei Kinder leben deswegen seither in den USA.

Kara-Murza wurde 2015 und 2017 zweimal schwer vergiftet – nach internationalen Recherchen von eben jenen Geheimdienstmitarbeitern, die auch am Giftanschlag auf Alexei Nawalny beteiligt gewesen waren.

Nach jeweils langer Genesung im Ausland kehrte Kara-Murza trotzdem wieder nach Russland zurück. Russland sei sein Land und er sei ein russischer Politiker, sagte er nur dazu. Er werde Putin nicht den Gefallen tun, aufzugeben und wegzurennen.

Dann kam der erneute Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 – und Kara-Murza gründete schon wenige Tage später mit Garri Kasparow, Michail Chodorkowski und anderen Oppositionellen ein Antikriegskomitee. Im April 2022 wurde Kara-Murza in Moskau festgenommen und ein Jahr später wegen Hochverrats und anderer politischer Vorwürfe zu 25 Jahren Strafkolonie in Sibirien verurteilt, der möglichen Höchststrafe.

Anlass war unter anderem, dass Kara-Murza im Parlament von Arizona russische Kriegsverbrechen in der Ukraine „Kriegsverbrechen“ genannt hatte. Wenn es zum Verbrechen erklärt wird, die Wahrheit auszusprechen, dann ist die Tyrannei unübersehbar.

Zweieinhalb Jahre war Kara-Murza in Haft. Während dieser Zeit hat er einmal mit seiner Frau und zweimal mit seinen Kindern telefonieren dürfen. Zuletzt war er elf Monate in Isolationshaft. Und das vor dem Hintergrund, dass nach den Regelungen der Vereinten Nationen Isolationshaft ab einer Dauer von 15 Tagen bereits als Folter gilt. Wenn ein Mensch gefoltert wird, dann ist die Tyrannei unübersehbar.

Evgenia Kara-Murza hat in dieser Zeit auf der ganzen Welt unermüdlich für die Freilassung ihres Mannes und für die Freilassung der mehr als tausend weiteren politischen Gefangenen in Russland gekämpft.

Evgenia Kara-Murza ist längst selbst ein Gesicht der russischen Opposition. Sie hat gerade zusammen mit der belarussischen Oppositionsführerin Sviatlana Tsikhanouskaya den Lantos Menschenrechtspreis erhalten. Wir verneigen uns heute auch vor Ihnen, liebe Evgenia Kara-Murza!

Vladimir Kara-Murza wiederum hat die Kraft besessen, im sibirischen Straflager Kolumnen zu schreiben und irgendwie der Washington Post zuzuspielen. Für diese Kolumnen hat er in diesem Frühjahr den Pulitzer-Preis erhalten. Was für eine Stärke und Unbeugsamkeit!

Im Sommer dieses Jahres nun kam es zu dem historischen Gefangenenaustausch zwischen Russland und einer Reihe liberaler Demokratien wie den USA und Deutschland, der Vladimir Kara-Murza die Freiheit zurückbrachte.

Als damaliger Bundesjustizminister war ich vor eine schwierige Wahl gestellt. Dazu muss man wissen, dass Putin unmissverständlich ausrichten ließ, der Austausch werde nur zustande kommen, wenn der in Deutschland verurteilte und inhaftierte Mörder von Zelimkhan Khangoshvili nach Russland abgeschoben werde.

Vieles sprach dagegen. Und die Argumente, die mir der Generalbundesanwalt als zuständige Vollstreckungsbehörde vortrug, verdienen auch größten Respekt. Denn natürlich muss der Rechtsstaat ein Interesse daran haben, dass ein verurteilter Mörder seine Strafe verbüßt. Natürlich erwarten die Angehörigen von Zelimkhan Khangoshvili, dass sein Mörder die gerechte Strafe verbüßt.

Natürlich gab es die Sorge, dass Putin aus der Inhaftierung unschuldiger Menschen ein Geschäftsmodell macht.

Aber Justitias Waage hat immer zwei Schalen. Und die andere hatte auch Gewicht:

Da stand die Schutzpflicht der Bundesregierung für eigene Staatsbürger. Fünf von ihnen konnten wir befreien, davon einen, der in Belarus offiziell zum Tode verurteilt war. Er wurde erst anlässlich des Austausches begnadigt. Und es stand dagegen die Chance, weitere Leben zu retten. Sie selbst, lieber Herr Kara-Murza, haben den Austausch eine „Lebensrettungsaktion“ genannt. Am Ende hat mich auch der Gedanke überzeugt, dass der Traum von einem demokratischen Russland der Zukunft nicht sterben darf. Und diesem Traum geben Sie ein Gesicht, lieber Vladimir Kara-Murza!

Ich möchte am Schluss Ihre Worte der Hoffnung wiederholen, die Sie in dem gegen Sie geführten Schauprozess wegen Hochverrats gesagt haben:

„Ich weiß, dass der Tag kommt, an dem sich die Finsternis über unserem Lande auflöst. An dem schwarz wieder als schwarz bezeichnet wird und weiß als weiß. An dem offiziell anerkannt wird, dass zwei mal zwei eben doch vier ist. An dem der Krieg wieder Krieg genannt wird und der Usurpator wieder Usurpator. An dem diejenigen, die diesen Krieg angezündet und ausgelöst haben, als Verbrecher bezeichnet werden – und nicht diejenigen, die versucht haben, ihn zu stoppen.“

Die Finsternis über Russland wird sich auflösen, sagt Kara-Murza, so wie Herodot prophezeit hat, dass die Unterdrückung von Freiheit und Gleichheit so wenig gelingen kann, wie dass der Himmel je unter die Erde fällt.

Lieber Vladimir Kara-Murza, liebe Evgenia Kara-Murza: Wir wünschen Ihnen beiden weiter viel Kraft und viel Mut für Ihren selbstlosen Kampf gegen die Tyrannei.

Herzlichen Glückwunsch zum Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit!