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So hält Belgiens neue Mehrparteienkoalition rechtsextreme Agenden in Schach

n Belgien ist die sogenannte Arizona-Regierung unter der Führung des flämischen Nationalisten Bart De Wever vereidigt worden.

In Belgien ist die sogenannte Arizona-Regierung vereidigt worden.

© picture alliance/dpa/Belga | Hatim Kaghat

Die Frage nach der Bildung stabiler und entschlussstarker Koalitionen wird für immer mehr europäische Länder zusehends wichtiger. Nicht nur wegen des jüngst exponentiellen Wachstums der rechten und extrem rechten Ränder, sondern auch aufgrund der zunehmenden Fragmentierung des übrigen politischen Spektrums. Fragmentierung führt oft zu Entscheidungsunfähigkeit in Koalitionen, häufig aber bereits auch zu Schwierigkeiten bei deren Bildung. In vielen europäischen Demokratien wird es immer schwieriger eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Und all das bereits bevor es überhaupt zur konkreten Politikgestaltung kommt. Aber das Beispiel der neuen belgischen Regierung zeigt: wenn es sein muss, geht es trotzdem irgendwie. Die neue Mehrparteienkoalition ist ein gutes Beispiel für einen pragmatischen Verhandlungsprozess, bei dem es den stark fragmentierten Parteien gelungen ist, Brücken über tiefe ideologische Gräben hinweg zu bauen. Wie stabil diese in den kommenden Jahren halten werden, bleibt abzuwarten, aber die Bildung ebendieser Koalition kann viel über politischen Realismus in einer fragmentierten und zunehmend konservativ dominierten politischen Landschaft lehren –die wichtigsten Erkenntnisse finden Sie in unserem „Fragmentierte Koalitionen-Einmaleins“ weiter unten.

Eine unkonventionelle Allianz

Die Zusammensetzung der neuen belgischen Regierung ist beispiellos: sie wird zum ersten Mal von einem konservativen flämischen Nationalisten angeführt – Bart De Wever, dem Vorsitzenden der Partei Neue Flämische Allianz (N-VA). Sie besteht aus nicht weniger als fünf Parteien aus beiden großen Sprachgruppen Belgiens. Seit die flämischen Mitte-Rechts- (N-VA) und rechtsextremen (Vlaams Belang) Parteien als Sieger aus den nationalen Parlamentswahlen im Juni 2024 hervorgingen, steht fest, dass Belgien, oder genauer: Flandern in den letzten Jahren eine massive konservative Wende vollzogen hat. Keine der beiden Parteien hatte jedoch auch nur annähernd eine Regierungsmehrheit, und da die N-VA vorab zugesichert hatte, den cordon sanitaire gegen eine Koalitionsvereinbarung mit Vlaams Belang einzuhalten, stand von Beginn an fest, dass die flämischen Konservativen auf mehrere anderen Partner angewiesen sein würden.

Mit allen Sitzen kommt die neue Regierungskoalition nun auf insgesamt 81 von 150 Sitzen und bildet damit nur eine kleine, aber dennoch entscheidende Mehrheit. Die Verhandlungen waren kompliziert und dauerten insgesamt 234 Tage. Für die Bildung einer belgischen Nationalregierung ist nicht einmal die längste Verhandlungsdauer der letzten Legislaturperioden, wie auch die Anzahl von fünf Koalitionspartnern nicht die komplexeste Zusammensetzung der letzten Regierungskoalitionen ist. Der Tradition nach ist fast nichts in der belgischen Politik simpel: Parteien sind komplexe Fragen nach regionaler Identität und Autorität gewohnt, und Meinungsverschiedenheiten über politische, administrative und sprachliche Grenzen hinweg sind Tagesordnung. Indes überrascht Belgien gelegentlich mit außergewöhnlichem Pragmatismus und Ausdauer angesichts komplizierter Dissenzlagen, und die gerade abgeschlossenen Verhandlungen für die neue „Arizona“-Koalitionsregierung sind ein Beispiel dafür.

In der neuen Koalition wird die Führung der N-VA von mehreren zentristischen Kräften über Sprachgrenzen hinweg unterstützt: das frankophone Mouvement Réformateur (MR, liberal) wurde zweitstärkste Kraft, gefolgt von den ebenfalls frankophonen Les Engagés (zentristisch) und den flämischen, zentristischen Christdemokraten (CD&V, zentristisch). Abschließend sind selbst die flämischen Sozialdemokraten Vooruit eher Mitte-Links als sozialistisch. Für die belgische Nationalpolitik bedeutet dies, dass diese Regierung gut gerüstet ist, um sich in Kernthemen wie wirtschaftliche Stabilität, und Sicherheit einigen zu können. Für die frankophone Wallonie, wo MR und Les Engagés seit Mitte 2024 erstmals eine zentristische Koalition in der Regionalregierung bilden, bedeutet dies eine weitere Abkehr von der traditionell linksgerichteten politischen Ideologie hin zu mehr zeitgemäßem Realismus. Auf der flämischen Seite wiederum verloren die Liberalen (Open VLD) dramatisch an Stimmen an N-VA und Vlaams Belang.

Flämische Separatistenagenda auf Eis gelegt – vorerst

Die N-VA, einschließlich Bart de Wever selbst, war in der Vergangenheit dafür bekannt, die Unabhängigkeit Flanderns zu fördern – eine Vision, bei der die Ideologie der Partei Ähnlichkeiten mit der stark separatistischen Agenda von Vlaams Belang aufwies. Sollte ein Versuch zur Unabhängigkeit Flanderns jemals unternommen werden, hätte dies schwerwiegende Folgen: es würde den belgischen Nationalstaat zerschlagen, die französischsprachige Wallonie in den unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch stürzen und den Status Brüssels als Hauptstadt der Europäischen Union und als wichtiges Wirtschaftszentrum für Berufspendler aus ganz Belgien erheblich verkomplizieren. Aus institutioneller Sicht der EU würde eine Implosion des belgischen Nationalstaats zu langanhaltenden, schwerwiegenden Störungen führen, da die meisten Institutionen der EU sowie die NATO technisch auf flämischem Gebiet stationiert sind. Premierminister De Wever besteht weiterhin darauf, dass die Unabhängigkeit Flanderns während seiner Amtszeit als Premierminister nicht zu einem „Tabu“ werden dürfe, wobei er sich dennoch in jüngster Zeit etwas von der flämischen Separatistenagenda distanziert hat und darauf besteht, dass seine Partei trotz ihrer wiederholten Kritik an europäischen Regularien nicht als europaskeptisch oder antieuropäisch anzusehen sei. De Wever ist darüber hinaus entschlossen, die Frage nach der flämischen Unabhängigkeit nicht Vlaams Belang zu überlassen. Wiederholt hat er darauf hingewiesen, dass eine verstärkte Autonomie für Flandern - ein Ansatz zur regionalen Souveränität, den er „Konföderalismus“ nennt - nach wie vor ganz oben auf seiner politischen Agenda steht. Und die zukünftige Haltung der N-VA zu diesem Thema wird stark von seinem ganz persönlichen Urteil abhängen, da er innerhalb der Partei einen unangefochtenen Machtstatus hält.

Pragmatismus trumpft Fragmentierung

Die fünf Koalitionspartner haben es geschafft, einen starken gemeinsamen Anreiz zu identifizieren: die Konsolidierung der nationalen Wirtschaftsleistung und des belgischen Staatshaushalts. Dieser Fokus ist klug gewählt, da es sich für keinen der Koalitionspartner um ein ideologisch überladenes Thema handelt. Ganz allgemein scheint die neue Koalition auf politischen Realismus zu setzen. Obwohl sie aufgrund der Stärke der N-VA konservativ ist, hat sie ihre Vereinbarung auf große Themen aufgebaut, bei denen die Notwendigkeit zum Handeln so offensichtlich ist, dass die Konsensbereitschaft jeder Koalitionspartei außer Frage steht. Dies zeigt sich nicht nur in der Thematik des nationalen Haushalts, sondern auch Konsens über eine strengere Migrationspolitik sowie über höheren Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung. Sichtbar hat die Wahl dieser Schwerpunkte den Koalitionsparteien dabei geholfen, frühere ideologischen Differenzen zu überwinden. Insbesondere die frankophonen Koalitionspartner hegten zuvor Skepsis gegenüber der N-VA, doch im aktuellen Vergleich zum aggressiv-nationalistischen Populismus der Vlaams Belang wirkt selbst die Koketterie der N-VA mit der flämischen Unabhängigkeit noch gemäßigt. Dieser Kontrast erklärt die unmittelbare Offenheit der frankophonen Liberalen für eine Koalitionsbildung mit der N-VA, die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Unter Umständen mag geholfen haben, dass N-VA und MR bereits 2014–2018 in der sogenannten „Kamikaze“-Koalition unter Charles Michel (MR), zusammengearbeitet hatten, obwohl die Zusammenarbeit damals scheiterte. Jedenfalls war die Eindämmung der rechtsextremen Agenda von Vlaams Belang ein weiteres pragmatisches gemeinsames Ziel, auf das sich die Koalition leicht einigen konnte. In der Praxis bedeutet dies jedoch, dass die Koalition vor allem in der Migrationspolitik stark konservativ vorgehen muss, um eine große Zahl flämischer Wähler im Boot zu halten, die mit den extremen Positionen von Vlaams Belang liebäugeln. Neue Reformen könnten das belgische Migrationsrecht daher bald zu einem der strengsten in Europa machen.

Zusammenfassend ist die neue belgische Koalition eine wirtschaftsorientierte Koalition, die sich jedoch eher auf Konsolidierung (konservativ) als auf Innovation (liberal) konzentrieren dürfte. Die Verfolgung wirtschaftlicher Stabilität kann jedoch ein wirksames Mittel sein, ideologische Angriffe von rechts abzuwehren; letztlich nutzen Rechtspopulisten gerade die wirtschaftlichen Abstiegsängste der Menschen gezielt für eine Destabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Ein Fokus auf wirtschaftliche Stabilisierung hingegen könnte ebendiese Ängste abschwächen.

Kompromiss à la belge: Fragmentierte Koalitionen-Einmaleins

Letztlich ist die interessanteste Erkenntnis aus den belgischen Koalitionsverhandlungen der Ansatz, der schließlich zum Kompromiss geführt hat. Fünf Parteien auf einen Nenner zu bringen, ist harte Arbeit, und im belgischen Fall haben die Koalitionsparteien nicht nur ideologische Differenzen, sondern auch unterschiedliche Verantwortlichkeiten gegenüber ihren Wählern in den sehr heterogenen Regionen Flandern und Wallonie. Anfangs war die Kluft in der Steuerpolitik so groß, dass es so aussah, als würde es überhaupt keine Einigung geben. Unabhängig davon, ob hier vielleicht bereitwillig ein wenig Drama hinzugegeben wurde, um gleichzeitig laufende Kommunalwahlkämpfe zu befeuern, haben es die fünf Parteien den Konsens letztendlich dennoch geschafft. Die folgenden Faktoren bilden das aufschlussreiche belgische Koalitionen-Einmaleins:

1. Sich mühsam durchbeißen, zahlt sich später aus: Zeit ist Geld, auch in Belgien, aber manchmal ist mehr tatsächlich mehr. In Belgien fungiert die vorherige Regierung als geschäftsführende Regierung, solange neue Koalitionsverhandlungen noch nicht abgeschlossen sind. Dies schafft Zeit, sich mit allen Details zu befassen und von Anfang an Unstimmigkeiten auszuräumen, ohne sich zu früh auf oberflächliche Pauschallösungen festlegen zu müssen. Natürlich kann dies nach hinten losgehen, wie in der Vergangenheit vereinzelt der Fall, wenn nicht genügend Druck von außen besteht, um schnell zu einer Einigung zu kommen. Extrem langwierige und ineffiziente Verhandlungen können dann das Ergebnis sein. Dieses Mal scheint jedoch genau der richtige Druck bestanden zu haben, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Trotz ihrer Dauer war es eine der schnelleren Koalitionsverhandlungen in jüngerer Zeit, und es scheint sich ausgezahlt zu haben, alle größeren Kontroversen sorgfältig durchzugehen.

2. Sich auf weniger, aber konsensfähigere Themen zu konzentrieren, schafft Glaubwürdigkeit: Pragmatismus bedeutete im belgischen Fall, den großen Themen absoluten Vorrang zu geben und zu akzeptieren, dass kleinere Themen dahinter zurückstehen müssen. Bei schwachen Mehrheitsverhältnissen ist das finale Erreichen eines Kompromisses das Einzige, was wirklich zählt, um überhaupt etwas bewegen zu können. Im belgischen Fall hat es geholfen, die Bereiche Finanzen, Wirtschaftsleistung und Migrationsreform als Kernthemen zu identifizieren. Bei kleineren Themen mit einem breiteren Meinungsspektrum innerhalb der Koalition ist daher die Wahrscheinlichkeit höher, dass Reformen vorerst zurückgestellt werden. Da sich jedoch die Meinungen der Wähler so stark von links in die Mitte (Wallonien) und von der Mitte nach rechts (Flandern) verschoben haben, entsprechen die von der Koalition ausgewählten Schwerpunktthemen aber dem, was eine Mehrheit der Wähler voraussichtlich in der Praxis sehen möchte. Sofern dies das Vertrauen der Wählerschaft stärkt, senkt es möglicherweise auch das Risiko weiterer Verschiebungen nach rechts.

3. Nationale Wirtschaft schlägt regionalen Populismus: Die wirtschaftliche Konsolidierung, auf die sich die neue Koalition konzentrieren will, ist ein Thema, bei dem harte Fakten einen größeren Teil des Weges weisen können. Dies vermindert den Raum für ideologisch verzerrte Diskurse. Die Konzentration auf diese Fakten könnte auch überregional einen einenden Effekt haben, da sie die Aufmerksamkeit auf Notwendigkeiten auf der nationalen Ebene lenken, wo letztlich beide Regionen im selben Boot sitzen. Populistische Ideologie, insbesondere die der extremen Rechten, ist währenddessen in Belgien stärker auf der regionalen Ebene vertreten. Ein wirtschaftlicher Fokus auf nationaler Ebene könnte also dazu beitragen, populistische Agenden im gesamtgesellschaftlichen Diskurs stärker als rein regionale Themen zu identifizieren.

Dr. Nele Fabian ist Senior European Affairs Managerin im Regionalbüro Europa der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.

Die Autorin dankt dem Politikhistoriker und flämischen liberalen Kommunalpolitiker Laurenz van Ginneken (Open VLD; ENoP) für seine Beratung zu diesem Artikel und seine Einblicke in die politische Geschichte Belgiens.

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Florian von Hennet
Florian von Hennet
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