Frankreich
Eine Moderne Agora
In seinem Appell berief sich Macron auf den Wunsch vieler Menschen, sich jenseits der klassischen repräsentativen Demokratie auch ohne Parteimitgliedschaft aktiv am politischen Prozess zu beteiligen. Damit erhebt diese neue Form der Bürgerbeteiligung im Sinne einer modernen Agora den Anspruch, einer steigenden Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und allen Bürgern eine Stimme zu geben. Am französischen Beispiel wird jedoch schnell deutlich, was dabei alles schieflaufen kann, wenn man es nicht richtig oder nur halbherzig anpackt. Unter anderem fand ein thematisch zugespitzter Klimakonvent (Convention Citoyenne pour le Climat) statt, an dem 150 per Los ausgewählte Personen teilnahmen. Im parlamentarischen Prozess wurden anschließend jedoch nur einige der im Konvent erarbeiteten Vorschläge aufgegriffen, was zu mancher Frustration führte und in den Medien entsprechend ausgeschlachtet wurde. Auch andere zentrale Forderungen aus dem Grand Débat verhallten, zum Beispiel der Ruf nach Bürgerreferenden oder nach einer Reform der Institutionen.
Vielfalt als besondere Stärke
Sollte die Idee nationaler und europäischer Bürgerkonferenzen nicht vielleicht vor allem Macrons Image aufpolieren, der für seinen vertikalen Führungsstil bekannt ist und oftmals als vom Volk abgekoppelter Präsident geschildert wird? Die Frage stellt sich vor diesem Hintergrund durchaus. Dagegen spricht, dass Macron Europa schon im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 2017 zu einem Kernthema gemacht hatte. Und auch für seine Wiederwahl 2022 setzt der Nordfranzose aus Amiens auf europäische Themen. Eigens wurde der Verein für einen europäischen Neubeginn (Association pour la Renaissance Européenne) geschaffen, der den Wahlkampf dezentral in ganz Frankreich mit europabezogenen Veranstaltungen und Kampagnen begleiten wird.
Macron hat auch mit Blick auf die europäische Zukunftskonferenz seinen Worten Taten folgen lassen. Frankreich engagiert sich anders als Deutschland besonders, indem es die von der EU organisierten europäischen Bürgerforen durch nationale Bürgerdia-
loge im eigenen Land ergänzt. Damit trägt es dafür Sorge, dass auch Menschen, die sich nicht sowieso schon für Europa interessieren, in den Prozess miteinbezogen werden. Im September 2021, nur drei Monate nach dem Start der europäischen Konferenz, hat man in 18 französischen Regionen im Blitztempo nationale Bürgerforen auf die Beine gestellt, wo sich die Teilnehmenden zu den neun Themen der europäischen Konferenz (Klimawandel und Umwelt, Gesundheit, Wirtschaft und Beschäftigung, EU in der Welt, Rechtsstaatlichkeit, Digitaler Wandel, Demokratie, Migration, Bildung und Kultur) austauschen und eigene Schwerpunkte wählen konnten.
Eine besondere Stärke der von der EU organisierten Dialogprozesse ist die Vielfalt der Teilnehmenden, die repräsentativ nach sozialen Hintergrund, Geschlecht, Alter, Beruf und Herkunft ausgeählt wurden. Nach der konstituierenden Plenarsitzung sind die vier thematischen „Bürgerforen“ an den Start gegangen, die mit jeweils 200 zufällig ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern bis Mitte Januar jeweils drei Mal tagen. Von diesen jeweils 200 vertreten 20 die in den Foren ausgehandelten Positionen und Vorschläge in der Plenarversammlung, bis im April auf einer Abschlussveranstaltung alle Vorschläge aus den verschiedenen Konferenzen zusammengeführt und diskutiert werden sollen.
Vielfalt als besondere Stärke
Trotz aller Bemühungen lässt die Bekanntheit der Konferenz in der Gesamtbevölkerung noch immer erheblich zu wünschen übrig, wie eine Straßenumfrage der Friedrich-Naumann-Stiftung mit zufällig angesprochenen Bürgerinnen und Bürgern in Berlin, Paris und Brüssel ergab. Fast niemand hatte zuvor von der Konferenz gehört, nicht einmal Politik-Studierende. Dies gilt auch für die seit April 2021 verfügbare Online-Plattform der Zukunftskonferenz. Die knapp
10 000 Vorschläge, die bisher dort eingegangen sind, wurden vor allem von Europaskeptikern oder von Europaliebhabern verfasst, die sich ehrenamtlich oder hauptberuflich mit der EU beschäftigen. Die Verankerung in der Bevölkerung fehlt. In Deutschland gibt es freilich keine übergeordnete nationale Strategie, die Zukunftskonferenz bekannter zu machen, und anders als in Frankreich auch keinen zentral gesteuerten Prozess von Bürgerforen mit zufällig ausgewählten Teilnehmenden.
Noch bleibt abzuwarten, welche konkreten Reformvorschläge am Ende des Prozesses in europäische Politik gegossen werden. Es gehört aber auf jeden Fall zum Pflichtenheft der neuen Bundesregierung, sich mit allen Kräften dafür einzusetzen, dass aus dem demokratischen Versprechen Macrons möglichst viel eingelöst wird. Nur wenn Deutschland Frankreich wieder die Hand reicht, werden wichtige Reformen in der Migrations- und Asylpolitik, in der Digitalisierung oder der Außenpolitik gelingen können.
Jeanette Süß ist European Affairs Manager im Europäischen Dialogprogramm der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel und leitet dort die Frankreich-Aktivitäten.