Restart21
Freiheitslehren für künftige Krisen
Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Gesundheitskrise bleiben. Aber auch andere Krisensituationen, die überragende Schutzgüter (wie aktuell den Lebens- und Gesundheitsschutz) in den Vordergrund rücken, sind vorstellbar. Aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie im letzten Jahr lassen sich einige allgemeine Freiheitslehren ableiten, um sicherzustellen, dass die nächste Krise nicht innerhalb eines Jahres wieder zur Grundrechts- und Verfassungskrise wird.
Grundrechtseinschränkungen als ultima ratio
Die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten ist immer das letzte Mittel (ultima ratio). In Situationen, die eine Einschränkung zur Gewährleistung eines überragenden Schutzguts dennoch erfordern, sind andere Schutzgüter aber nicht komplett verdrängt. Sie müssen vielmehr im Rahmen einer sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Gesamtstrategie und beim Erlass von Einzelmaßnahmen immer mit ein- bezogen werden. Denn die Gewährleistung von Grund- und Freiheitsrechten ist auch in der größten Krise Kernaufgabe des Verfassungsstaates.
Zeitliche Befristung von Grundrechtseinschränkungen
Grund- und Freiheitsrechte dürfen nicht endlos lang eingeschränkt, sondern jede einschränkende Maßnahme muss zeitlich befristet werden. Wenn durch ausufernde Maßnahmen Grund- und Freiheitsrechte unangemessen lang eingeschränkt werden und die Menschen nicht mehr absehen können, wann sie ihre Freiheiten zurückgewinnen, geht das an den Wesenskern der Freiheit und ist schon aufgrund der Perspektivlosigkeit einer Rückgewährung verfassungsrechtlich bedenklich.
Alternative Maßnahmen mitdenken
Keine Maßnahme ist alternativlos. Alternative Maßnahmen sollten deshalb immer benannt und gegebenenfalls mit einer Begründung versehen werden, warum sie (aktuell) weniger geeignet zur Erreichung der Schutzziele sind. Bei der Bewertung, ob eine Maßnahme unbedingt erforderlich ist, sind immer alle Möglichkeiten staatlichen Handelns in den Blick zu nehmen. Deshalb muss der Staat die Verfügbarkeit milderer Mittel zur Erreichung des Schutzziels ständig erkunden und diese sofort anwenden, sobald sie zur Verfügung stehen.
Evidenzbasierte Auswahl von Maßnahmen
Entscheidungen zur Auswahl von Maßnahmen sind in Krisensituationen evidenzbasiert und transparent zu treffen. Dazu sind Prozesse zur Gewinnung einer Datengrundlage zur all- gemeinen Lage und zur Evaluierung der Effektivität einzelner Maßnahmen aufzusetzen. Bei jeder neuen Maßnahme muss die Gewinnung von Daten über ihre Wirksamkeit direkt mit- gedacht und gegebenenfalls gesetzlich geregelt werden. Der Datenschutz steht der Gewinnung von Daten für evidenzbasierte Entscheidungen in der Regel nicht entgegen, da anonyme und aggregierte Daten oft ausreichen.
Parlamente als integrierende Kraft
Der Parlamentarismus hat sich in der Corona-Pandemie als resilient und agil erwiesen. Für die Bewältigung von Krisen ist auf die Parlamente nicht nur aufgrund des verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts zu setzen. Ihre integrierende Kraft sollte als wichtiger Bestandteil der Krisenbewältigung genutzt werden. Die Öffentlichkeit und damit Transparenz, die durch Parlamentsdebatten zu neuen Maßnahmen hergestellt wird, ist ein entscheidender Faktor, um Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen. Denn am Ende wird die Krise nicht von Regierungen allein bewältigt, sondern nur mithilfe einer Bevölkerung, die mitzieht und Vertrauen in ihre Entscheidungsträger hat.
Wesentliches gesetzlich regeln
Grundsätzliches muss per Gesetz und nicht in Rechtsverordnungen geregelt werden. Das gebietet der Wesentlichkeitsgrundsatz als Teil unseres Rechtsstaatsprinzips; gesetzesvertretende Rechtsverordnungen darf es auch in Krisen nicht geben. Das gilt für die Rückgewährung von Freiheitsrechten und die Priorisierung bei der Impfreihenfolge genauso wie bei der Entscheidung in einer möglichen Triage-Situation. Auch in anderen Krisen werden Situationen auftreten, in denen aufgrund der Knappheit eines bestimmten Gutes Entscheidungen über Lebenschancen getroffen werden müssen. Diese einschneidenden Entscheidungen müssen gesetzlich geregelt werden. Es darf für die wesentlichen Fragen keine unter- gesetzliche Parallelrechtsordnung entstehen.
Funktionsfähigkeit der Justiz sicherstellen
Die Funktionsfähigkeit der Justiz und damit die Umsetzung des verfassungsrechtlich gesicherten Justizgewährungsanspruchs müssen auch in Krisen gesichert sein. Gerichte nehmen nicht nur als freiheitsschützendes Korrektiv für die Maßnahmen und Anordnungen im Einzelfall eine wichtige Rolle ein. Es darf sich auch nicht durch krisenbedingte Terminverschiebungen oder überlange Prozesse ein Verfahrens- stau bei den Gerichten aufbauen. Regelungen zur maßvollen Eingrenzung der Gerichtsöffentlichkeit und die grundsätzliche Möglichkeit zur digitalen Herstellung von Präsenz sind zur Bewältigung künftiger Krisen sinnvoll, damit auch in schwierigen Lagen so viele Sitzungen wie nötig stattfinden können.
Verwaltungen befähigen und digitalisieren
Die Verwaltungen müssen als ausführende Stellen für gesetzliche Vorgaben oder Rechtsverordnungen in die Lage versetzt werden, sowohl mit Krisen umzugehen als auch parallel das Tagesgeschäft am Laufen zu halten. Die Corona-Pandemie hat wie im Brennglas aufgezeigt, welche fundamentalen Auswirkungen die mangelnde Digitalisierung der Verwaltungen hat. Nur gut untereinander vernetzte Verwaltungen können in kürzester Zeit eine belastbare Datengrundlage für evidenzbasierte Entscheidungen liefern. Eine dysfunktionale Verwaltung hingegen kann bis zur Vernichtung von Existenzgrundlagen führen, wenn zum Beispiel Anträge auf finanzielle Unterstützung nicht schnell genug bearbeitet werden. Deshalb ist die Schaffung der notwendigen Infrastruktur durch die Digitalisierung der Verwaltungen oberstes Gebot der Krisenprävention.