Infektionsschutzgesetz
Angst vor der eigenen Entscheidung
Man reibt sich die Augen. Eigentlich würde man erwarten, dass die 16 Länder in Deutschland selbstbewusst auf ihre Kompetenzen pochen. So war das auch einmal – vor Corona. Allen voran Bayern, aber auch andere „Freistaaten“ wie Sachsen und Thüringen sowie „Freie“ Hansestädte wie Bremen und Hamburg wehrten sich traditionell vehement, wenn Zuständigkeiten von den Ländern auf den Bund verlagert werden sollten.
Zu Recht: Die Bundesrepublik Deutschland hat über 80 Millionen Einwohner und erstreckt sich über mehr als 350.000 Quadratkilometer. Sie ist – Gott sei Dank – landsmannschaftlich höchst unterschiedlich und hat Bundesgrenzen mit neun Nachbarstaaten, mehr als jede Nation der Welt außer China. Und diese Nachbarn haben Einfluss: wirtschaftlich, kulturell und natürlich auch, was die Ausbreitung von Krankheiten bei Mensch und Tier angeht. Deswegen spricht alles für föderale Lösungen – jedenfalls bei jenen Themen des täglichen Lebens, die regional differenziert aufschlagen, und das sind die allermeisten.
So auch Corona seit 2020. Zu keinem Zeitpunkt war das regionale Bild der Inzidenz und Hospitalisierung auch nur annähernd einheitlich. Zunächst „führte“ Bayern – dank der heimkehrenden infizierten Skiläufer aus dem nahen Tirol; Schleswig-Holstein blieb seinerzeit fast komplett verschont. Dann litt Sachsen unter der Nachbarschaft der massenhaft infizierten Tschechen. Und schließlich erwischte es doch noch Schleswig-Holstein wegen der hochschießenden Inzidenz in Dänemark. Ganz offensichtlich sind regional differenzierte Lösungen nicht nur sinnvoll, sondern geboten.
Aus dieser fast banalen Erkenntnis zieht das neue Infektionsschutzgesetz die nötige Folgerung: Es verlagert die Zuständigkeit auf jene Parlamente und Körperschaften, die sich regional und lokal auskennen, vor allem die Landesparlamente mit dem Rückgriff auf „ihre“ Kommunen. Aber es ist merkwürdig: Die Landespolitik in allen (!) Bundesländern begrüßt nicht im Geringsten die neu gewonnene Zuständigkeit, sondern sie beschimpft den Bund mit der geradezu absurden Begründung, er wolle sich aus der Verantwortung stehlen. Richtig ist dagegen: Der Bund gibt die Verantwortung endlich zurück an jene Stellen, wo sie hingehört – in einer Welt der regional differenzierten Verhältnisse.
Das Spiel der Länder ist natürlich durchsichtig: Sie wollen andere kritisieren, aber selbst nicht kritisiert werden. Sie wollen sich hinter dem breiten Rücken des Bundes verstecken. „Der war’s, nicht wir!“ So lautet das alte, bekannte politische Spiel. Das neue Gesetz macht damit Schluss. Es lässt den Ländern jede Möglichkeit offen, restriktive Maßnahmen gegen Corona zu ergreifen, wenn die Situation es erfordert. Sie müssen nur selbst einen „Hotspot“ definieren, der klein oder groß ist – im Extremfall so groß, dass er ein ganzes Bundesland umfassen kann. Und man muss sich natürlich an das Gebot der Verhältnismäßigkeit halten. Trauen sich das Ländern auf einmal nicht mehr zu? Sollen andere beurteilen, ob die Belastung des regionalen Gesundheitswesens etwa in einem dünn besiedelten Landstrich am Limit ist? Auch eine Ministerpräsidentin oder ein Ministerpräsident wird ja wohl den Mumm haben, auf Grundlage gesundheitspolitischer Indikatoren einen Hotspot zu identifizieren.
Mit Verlaub: Das ist ein trauriges Bild. Es wird Zeit, dass den Ländern in aller Härte der Spiegel der Verantwortung vorgehalten wird. Wir brauchen eine neue Diskussion über die Rechte und Pflichten im Föderalismus – und zwar schnellstmöglich. Spätestens nach Corona. Besser früher.