Israel
Israels Demokratie unter Druck: Politische Krise nach Entlassung des Geheimdienstchefs

Landesweite Organisationen protestieren in Jerusalem gegen Benjamin Netanjahus Entlassung des Chefs des Shin Bet, Ronen Bar, und den Versuch, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav Miara zu entlassen.
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Nir AlonWährend die Welt auf den Gaza-Krieg blickt, eskaliert in Israel ein innenpolitischer Konflikt, der nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober kurzzeitig in den Hintergrund trat. Nun kehrt er mit voller Wucht zurück. Die Auseinandersetzung zwischen der Regierung Netanjahus und der Opposition erreichte letzte Woche einen neuen Höhepunkt und zeigt die wachsende politische Polarisierung im Land.
Auslöser der Eskalation ist die Entlassung von Ronen Bar, dem Leiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet – ein beispielloser Schritt in Israels Geschichte mit erheblicher politischer Brisanz. Noch nie zuvor setzte eine amtierende Regierung einen Shin Bet-Chef ab. In Jerusalem und Tel Aviv protestierten Zehntausende gegen die Maßnahme. Viele sehen darin einen Angriff auf die Unabhängigkeit zentraler Institutionen – und damit auf die Demokratie. Ministerpräsident Netanjahu begründete die Absetzung mit einem Vertrauensverlust und verwies auf das Versagen des Geheimdienstes am 7. Oktober.
Analysten vermuten jedoch andere Gründe: Der Shin Bet soll gegen Personen aus Netanjahus Umfeld ermitteln. Es geht um mutmaßliche Sicherheitsverstöße und Zahlungen aus Katar. Diese heikle Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Zudem wird die Weitergabe eines geheimen Dokuments zur Hamas-Strategie an die deutsche Bild-Zeitung untersucht. Vor diesem Hintergrund liegt der Verdacht nahe, dass politische Motive hinter Bars Absetzung stehen könnten.
Israels Rechtsstaat unter Druck
Das Vorgehen der israelischen Regierung gegen Geheimdienstchef Ronen Bar reiht sich in eine Kampagne gegen Akteure ein, die den Plänen der Regierung im Wege stehen. Auch die prominente Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara geriet ins Visier der Regierung. Als Hüterin des öffentlichen Interesses warnte sie vor den Folgen der Versuche, die Gewaltenteilung zu schwächen, und kritisierte öffentlich fragwürdige Entscheidungen der Netanjahu-Regierung. Dazu gehörten Netanyahus Ernennung des vorbestraften Aryeh Deri zum Minister, die Einmischung des rechtsextremen Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, in polizeiliche Ermittlungen und die Pläne von Kommunikationsminister Shlomo Karhi, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu privatisieren. Immer mehr Koalitionsmitglieder forderten ihre Entlassung. Gestern leitete das Kabinett den Prozess ein, um die Generalstaatsanwältin abzusetzen.
Steht Israel vor einer Verfassungskrise?
Seit Justizminister Yariv Levin am 4. Januar 2023 seine umstrittenen Pläne zur Umgestaltung des Justizsystems vorstellte, steuert Israel auf eine Verfassungskrise zu. Diese könnte in einer direkten Konfrontation zwischen Regierung und Oberstem Gerichtshof enden. Die Entlassung Bars und das Verfahren gegen Baharav-Miara verschärfen den Konflikt. Am Freitag reichten Oppositionsparteien und NGOs Petitionen beim Obersten Gerichtshof ein, um Bars Entlassung rückgängig zu machen. Das Gericht stoppte die Entlassung vorerst mit einer einstweiligen Verfügung. Kommunikationsminister Shlomo Karhi kündigte jedoch an, die Regierung werde die Entscheidung des Gerichts nicht akzeptieren. Ein ähnlicher Konflikt droht auch im Fall Baharav-Miara. Ob Israel in eine Verfassungskrise stürzt, bleibt offen.
Fest steht: Diese Ereignisse reihen sich in eine Serie von Entscheidungen ein, die Israels demokratische Institutionen und die Gewaltenteilung schwächen sollen. Nachdem der erste Versuch der sogenannten Justizreform ins Stocken geraten ist, unternimmt die Regierung nun einen neuen Anlauf, um die Macht der Exekutive auszuweiten. Die Koalition will zentrale Konflikte der israelischen Gesellschaft vorentscheiden und das – aus ihrer Sicht zu liberale – Profil des Staates und seiner Institutionen umformen. Dafür plant sie, die Autorität des Obersten Gerichtshofs und die Grundrechte zu schwächen. Stattdessen sollen Mehrheitsprinzipien gestärkt werden, die der Regierung kaum noch Grenzen setzen. Regierungspolitiker sagen, der Oberste Gerichtshof habe zu viel Macht und blockiere politische Entscheidungen, die die Mehrheit wünscht. Mit der Justizreform wollen sie der Knesset mehr Einfluss geben. Kritiker betonen, der Oberste Gerichtshof sei die einzige Instanz, die die Exekutive zügelt, da Israel keine anderen Kontrollmechanismen hat. Israel hat weder eine formale Verfassung noch einen föderalen Staatsaufbau, keine zwei Parlamentskammern und kein Prüfungsrecht des Staatspräsidenten für Gesetze.
Vor wenigen Wochen beschloss die Knesset ein Gesetz, das der Koalition die alleinige Kontrolle über die Ernennung des Justizombudsmanns gibt. Bisher mussten sich der Justizminister und der Präsident des Obersten Gerichtshofs auf einen Kandidaten einigen, bevor der Richterwahlausschuss darüber abstimmte. Die neue Zusammensetzung des Ausschusses sichert der Koalition eine Mehrheit und schwächt den Einfluss von Justiz und Opposition. Zudem diskutiert die Knesset derzeit einen Gesetzesentwurf, der die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses neu regelt. Künftig sollen politische Vertreter im Ausschuss die Ernennung von Richtern dominieren. Beim Ernennungsprozess zum Obersten Gerichtshof verlöre die Richterschaft erheblichen Einfluss.
Rückkehr von Ben-Gvir in die Regierung
Der Angriff auf Baharav-Miara steht auch im Zusammenhang mit der Entscheidung von Premierminister Benjamin Netanjahu, den rechtsextremen Politiker Itamar Ben Gvir wieder zum Minister für Nationale Sicherheit zu ernennen. Trotz deutlicher Einwände der Generalstaatsanwältin stimmte das Kabinett einstimmig dafür, ihn wieder in sein Amt einzusetzen. Ben Gvirs Rückkehr in die Regierung erfolgte nach monatelangen politischen Manövern, nachdem seine Partei Otzma Yehudit die Koalition verlassen hatte, weil sie den Waffenstillstand und das Geiselabkommen mit der Hamas ablehnte.
Seine Wiederernennung folgt nun auf die Wiederaufnahme der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen, die Ben Gvir in einem Posting in den sozialen Medien als Rechtfertigung für seine Rückkehr in die Regierung anführte. Netanyahus politisches Kalkül wird in dieser Entscheidung deutlich. Mit der Rückkehr von Ben Gvir rettet der Premierminister die Stabilität seiner Koalition, vor allem zu einem Zeitpunkt, indem die Regierung bis zum 31. März einen Haushalt verabschieden muss, um Neuwahlen zu verhindern. Netanyahus Bereitschaft, Ben Gvir wieder zu ernennen, ist Ausdruck eines allgemeineren Trends: politisches Überleben um jeden Preis. Die Abhängigkeit des Premierministers von rechtsextremen Elementen, um die Macht zu erhalten, an die er sich so verzweifelt klammert, hat die Extremisten gestärkt, gemäßigtere Sprecher an den Rand gedrängt und die politische Landschaft in Israel verändert.
Eines ist klar: Die tiefen Gräben, die schon vor dem Krieg existierten, bleiben. Die Justizkrise, die Proteste, das Misstrauen gegenüber der Führung – all diese Konflikte flammen wie von einem Funken entzündet wieder auf. Das Land steht am Scheideweg. Militärisch hat es viel erreicht. Politisch jedoch verstrickt es sich in seiner eigenen Dysfunktionalität. Ob Israel gestärkt oder zerrissen aus dieser Krise hervorgeht, hängt daher nicht nur vom Krieg im Gazastreifen ab, sondern vor allem auch von den Entscheidungen der politischen Führung – in Regierung und Opposition – und davon, was die Bürger in den kommenden Wochen und Monaten unterstützen oder hinnehmen werden.