Jahrestag
Ein Leben für Freiheit und Einheit
Wer kennt heute noch Ludwig Bamberger? Käme man auf die Idee, dies mit einer Umfrage in der deutschen Bevölkerung zu erkunden, das Ergebnis wäre ernüchternd. Nur wenige Deutsche könnten mit dem Namen etwas anfangen; selbst unter Mitgliedern der Liberalen, seiner lebenslangen Parteifamilie, oder unter den Bürgern von Mainz, seiner Geburtsstadt, wäre wahrscheinlich ein Achselzucken verbreitet.
Es ist vor allem die erschreckende allgemeine Ignoranz gegenüber dem Reichstag im Kaiserreich und seinen Mitgliedern, die erklärt, weshalb einer seiner großen Redner und prominentesten Mitglieder – immerhin 19 Jahre lang von 1871 bis 1890 – fast vergessen ist, ganz anders als Reichskanzler Otto von Bismarck, dessen Anhänger und später Gegenspieler Ludwig Bamberger war. Ein Beleg für das Versagen des Geschichtsunterrichts in Deutschland, wo viel auf die Regierungen, aber wenig auf die Parlamente und ihre Arbeit geschaut wird. Bismarcks bissige Bezeichnung von Volksvertretern als „Kammerzelebritäten“ wirkt bis heute nach.
Bei kaum jemandem ist dies so ungerecht wie bei Ludwig Bamberger. Seine Biografie ist Spiegelbild des Freiheitskampfs im 19. Jahrhundert. Geboren am 22. Juli 1823 in eine wohlhabende jüdische Bankiersfamilie in Mainz genoss der junge Ludwig Bamberger eine anspruchsvolle Erziehung und Bildung – zunächst Schule und Gymnasium plus Privatunterricht in Fremdsprachen, dann ab 1842 Studium an den Universitäten Gießen, Heidelberg und Göttingen mit Schwerpunkt Rechtswissenschaft und Philosophie bis hin zur juristischen Promotion. Wäre er kein Jude gewesen, hätte ihm, dem gerade mal 24-Jährigen, eine Laufbahn als Richter, Staatsdiener oder Notar offen gestanden.
Es blieb dem sprachlich Begabten der Weg in den Journalismus. Der begann im März 1848, gewissermaßen pünktlich zum Beginn der Revolution, und Bamberger brachte es schnell zum Mitherausgeber und schließlich Chefredakteur des liberal orientierten Blattes. In diesen Funktionen unterstützte er publizistisch den Umsturz der Verhältnisse, und zwar politisch auf der Seite der radikalen Republikaner. Sein Credo war eine parlamentarische Demokratie und der Einheitsstaat – möglichst ohne föderale Elemente, die er für Restbestände reaktionärer Adelsherrschaft hielt.
Bamberger begann, sich aktiv politisch zu engagieren – in führender Position bei den republikanisch gesinnten Demokraten in Mainz. Er kehrte aber bereits Anfang 1849 in den Journalismus zurück, weil er den Einsatz von Gewalt und offenbar auch sozialistische Utopien ablehnte, die unter Demokraten zunehmend Zustimmung fanden. Schließlich entschloss er sich aber doch, im sogenannten Pfälzischen Aufstand als Mitglied eines rheinhessischen Hilfscorps die Revolution zu verteidigen, erkannte aber dann auch schnell die Aussichtslosigkeit des Kampfes. Er floh vor der preußischen Armee in die Schweiz und wurde in Abwesenheit verurteilt – zu einer Zuchthausstrafe und 1852 sogar zum Tode.
Es folgte eine überaus erfolgreiche geschäftliche Zeit im Ausland, aufgefangen durch das verwandtschaftliche Netzwerk jüdisch geführter Bankhäuser. Nach Stationen in London und Antwerpen kam es zur Gründung des Bankhauses L. A. Bamberger in Rotterdam. Danach folgte die Zeit als dessen Prokurist in Paris, wo er – inzwischen mit Anna Belmont verheiratet – die Banque de Paris et des Pays-Bas (später kurz Paribas) mitgründete. Trotz der Tätigkeit als Bankier blieb ihm genug Zeit, den Kontakt zu anderen politischen Exilanten zu halten und weiter politisch zu publizieren.
1866 markiert den Beginn der Rückkehr in deutsche Lande - nach der Amnestie für die Revolutionäre von 1848. Bamberger war – wie viele Liberale – tief beeindruckt von der Leistung Bismarcks für die deutsche Einheit, weshalb er 1866 der neu gegründeten nationalliberalen Partei beitrat und für diese zunächst 1868 ins Zollparlament des Norddeutschen Bundes und dann 1871 in den Reichstag gewählt wurde. Seine Wahlkreise lagen fortan in Mainz bzw. dessen rheinhessischer Umgebung, sein Wohnsitz und Lebensmittelpunkt aber wurde Berlin.
Ludwig Bamberger war im Reichstag ein hochkompetenter Finanz- und Währungspolitiker. Er beteiligte sich gesetzgeberisch an der Etablierung der neuen Währung mit fester Goldparität im internationalen Goldstandard, der die Reichsmark an den globalen Kapitalmärkten zu einem hoch angesehenen Zahlungsmittel werden ließ – zum wichtigen, wenn auch kleineren Bruder des britischen Pfunds. Mit dem Münzgesetz von 1873 und dem Bankgesetz von 1875 war dieser Übergang zum Gold vollzogen, ganz im Sinn von Bamberger, der die Zentralisierung von Geld und Währung im neu gegründeten Reich inklusive einer „Reichsbank“ mit Zentralbankfunktionen maßgeblich vorantrieb. Damit war jenes Vorbild an währungspolitischer Stabilität geschaffen, an dem sich noch die erfolgreichen Währungs- und Wirtschaftsreformen von Gustav Stresemann 1923 und Ludwig Erhard 1948 orientierten.
Es war Bismarcks Abwendung von der Zusammenarbeit mit den Liberalen, die gegen Ende der siebziger Jahre auch zum Bruch mit Ludwig Bamberger führte. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen sowie vor allem die Einführung hoher Schutzzölle stieß auf Bambergers vehementen Widerspruch. Er verließ mit Gleichgesinnten wie seinem Freund Eduard Lasker die Nationalliberalen und gründete die „Sezession“ (später: Liberale Vereinigung), die dann 1884 mit der Deutschen Fortschrittspartei zur Deutschen Freisinnigen Partei fusionierte. Sie stand politisch links von der Nationalliberalen Partei – mit klarer und kompromissloser Haltung gegen Protektionismus und den aufkommenden Antisemitismus, aber auch mit hartem Widerstand gegen den beginnenden Aufbau eines Wohlfahrtsstaats – mit einem System der Sozialversicherung, das über Zwangsbeiträge finanziert wurde. In deren Selbstverwaltung sah Bamberger einen bewussten Versuch Bismarcks, das Parlament zu schwächen und große Bevölkerungsgruppen zu „Heloten mit Pensionsberechtigung“ zu degradieren.
Diese radikalliberale, heute würde man sagen „libertäre“ Haltung entsprach voll und ganz dem Weltbild von Ludwig Bamberger. Er war ein Individualist, der an Begabung und Fähigkeiten des Einzelnen zutiefst glaubte – und sie im eigenen Leben bewies. Genau deshalb war er auch nicht religiös. Er war und blieb im besten Sinne ein liberaler Jude. Als solcher verabscheute er den Antisemitismus, interessierte sich aber nur wenig für die Riten seiner Religionsgemeinschaft. Für ihn zählte der Einzelne und sein Schicksal.
Es war ein „abenteuerliches Leben“, so der Historiker Dieter Langewiesche, das am 14. März 1899 zu Ende ging. Der dramatische Start als republikanischer Revolutionär, das Intermezzo als geschäftlich erfolgreicher Emigrant im Westen Europas, der Neustart im Bismarck-Reich mit dem Aufbau der Währung und des Bankensystems sowie schließlich die enttäuschte Abwendung des Liberalen vom konservativen Reichskanzler – das sind vier Phasen, die sich mit anderen konkreten Inhalten, aber ähnlichen Grundlinien in vielen Biografien von liberalen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts finden. Kaum einer von ihnen erreicht aber in allen vier Phasen jenes Maß an Entschlossenheit, Erfolg und Kreativität wie der Kosmopolit Ludwig Bamberger. Er gehört – viel mehr als bisher geschehen – in die Geschichtsbücher. Auf ihn können wir stolz sein, als Deutsche und als Liberale.