Kalte Progression
Klares Konzept
Es ist kurios: Bisweilen sorgen die klügsten Detailuntersuchungen für eine komplette Desorientierung der politischen Debatte. So geschehen in dem jüngsten „Discussion Paper“ der Arbeitnehmerkammer Bremen. Thema: „Inflation und mögliche Entlastungswirkungen – Verteilungswirkungen eines Abbaus der kalten Progression“. Es untersucht empirisch, welche Einkommensgruppen unter unterschiedlichen Annahmen von Lindners Plänen profitieren, und zwar in absoluten Euro-Beträgen. Klar ist: Zur Zeit der Veröffentlichung des Papiers waren Pläne des Finanzministers im Detail noch gar nicht bekannt, aber dies ist der Studie kaum vorzuwerfen, denn sie schaut sich sorgfältig unterschiedliche Varianten der „Entlastung“ an.
Wichtigstes Szenario ist dabei die Standardvariante, alle sogenannten Tarifeckwerte um 6 Prozent zu erhöhen – und damit in etwa der Inflationsrate Rechnung zu tragen. Als Tarifeckwerte bezeichnet man jene tariflichen Sprungstellen, bei denen ein höherer Grenzsteuersatz auf den zusätzlich verdienten Euro einsetzt. Ergebnis: Alle Steuerzahler profitieren, allerdings in der absoluten Höhe der Steuereinsparung bis etwa 100.000 Euro Jahreseinkommen zunehmend, für 100.000 bis 200.000 in etwa konstant und für noch höhere Einkommen wieder zunehmend. Wegen dieses in Teilen progressiven Effektes der „Entlastung“, den die Autoren für unerwünscht halten, plädiert die Studie für einen (einkommensunabhängigen) Direkttransfer, der als Festbetrag nicht progressiv wirkt. Offen bleibt allerdings, ob dieser Direkttransfer wie eine Tarifänderung auf Dauer, also Jahr für Jahr, gezahlt würde – als eine Art permanenter Anhang zur Einkommensbesteuerung, was völlig systemwidrig wäre; oder ob er nur einmalig ausgezahlt würde, womit natürlich auch seine Entlastungswirkung nach einem Jahr verschwände.
Das Ziel heißt Steuergerechtigkeit
Soweit die Studie. Es gibt prima facie keinen Grund, an deren Rechnungen zu zweifeln. Das Problem liegt woanders. Es lautet: Die Studie beantwortet eine Frage, die vom Finanzminister gar nicht gestellt wurde. Oder genauer: Das Ziel des Finanzministers – und jeder Beseitigung einer kalten Progression – ist nicht die „Entlastung“ nach Gutdünken der Politik, sondern die Wiederherstellung einer Ausgangslage, unter der die Verteilungswirkung des Steuersystems real beabsichtigt war – und die sich durch die „kalte“, also nicht vom Gesetzgeber avisierte Progressionswirkung des Steuertarifs verzerrt wurde. Es ist also die Korrektur einer Art „ungerechtfertigten Bereicherung des Fiskus durch Inflation“, und die bemisst sich nun einmal nach der realen Entwertung des Einkommens durch Inflation und ggf. dem (rein nominalen) Hineinwachsen der Steuerpflichtigen in höhere Progressionszonen durch höhere Nominallöhne. Dass im Zuge dessen der absolute Euro-Betrag dieser Art „Erstattung“ oder „Wiedergutmachung“ (nicht „Entlastung“!) mit dem Einkommen steigen kann, liegt in der Natur des progressiven Tarifs, der eben in Deutschland im Bereich des Mittelstands besonders scharf ansteigt und bei hohen Einkommen natürlich auch hoch bleibt. Bei sehr niedrigen Einkommen unterhalb der scharfen Progressionszone, die im Bereich des unteren Mittelstands einsetzt, ist dieser Effekt gering; bei der beachtlichen Zahl von Haushalten, die ohnehin keine Einkommensteuer zahlen, ist er dagegen null.
Es geht also um die Wiederherstellung der Steuergerechtigkeit, wie sie real geplant war und durch die inflationsbedingte kalte Progression torpediert wird. Idealerweise ließe sich diese Gerechtigkeit permanent herstellen, indem der Einkommensteuertarif vollständig indexiert würde – durch die Bindung aller Tarifeckwerte an den Preisindex der Lebenshaltung. Lindners Pläne – wie sie auch immer konkret ausfallen – sind als erster Schritt in diese Richtung zu interpretieren. Die Schweiz hat ein solches System und ist gut damit gefahren. Es beendet ein für alle Mal das Eigeninteresse des Fiskus an der Inflation – ein riesiger Schritt in Richtung Stabilität.
Was ist konkret geplant?
Die tatsächliche Ausgestaltung schafft nun wichtige Impulse in diese Richtung. Seit dem 10. August sind die konkreten Pläne des Bundesfinanzministers zur Anpassung der Steuerlast an die Preisentwicklung bekannt. Ihr Ziel: Die inflationsbedingten steuerlichen Mehrbelastungen sollen ausgeglichen werden. Rund 48 Millionen steuerpflichtige Bürgerinnen und Bürger werden durch die Maßnahmen von zusätzlicher Belastung befreit. Etwa zehn Milliarden Euro bleiben nun in deren Händen, anstatt zusätzlich in den Steuersäckel zu fließen. Bewusst ausgenommen sind besonders hohe Einkommen, für die der sogenannte Reichensteuersatz von 45 Prozent greift. Damit wird ein System etabliert, von dem prozentual betrachtet besonders die niedrigen und mittleren Einkommen profitieren.
Zugegeben: Noch werden die Einkommenssteuersätze nicht automatisch an die Inflationsentwicklungen angepasst. Und doch, das Wichtigste an dem Vorstoß Lindners ist, dass er zeigt, dass das Problem der kalten Progression erkannt wurde – und nun durch passende Maßnahmen adressiert wird. Denn Fakt ist auch: Sollten wir auf Dauer in ein von Knappheit diktiertes Inflationsregime hineinrutschen und die Lohnsteigerungen scharf zunehmen, dann wird der Progressionseffekt noch weiter verstärkt. Bruttolohn- und -gehaltserhöhungen – obgleich zum Großteil reine Kompensationen für Preissteigerungen – würden im Übergang von Brutto zu Netto zum Teil „weggesteuert“, auch dies nicht akzeptabel mit Blick auf die Steuergerechtigkeit. Nur reale Einkommenszuwächse im Zuge „echten“ Wirtschaftswachstums sollten tatsächlich der Progression unterliegen, denn genau so war des Gesetzgebers Absicht bei Festlegung des Tarifs.
Meilenstein der Ordnungspolitik
Fazit: Die Pläne des Finanzministers sind nicht nur richtig, sondern vielleicht auch der Einstieg in eine neue Welt der inflationsneutralen Besteuerung. Dies wäre ein gewaltiger Schritt nach vorne, ein Meilenstein der Ordnungspolitik. Er sollte nicht in einer kleinteiligen Verteilungsdiskussion zerredet werden.