Landtagswahlen in Ostdeutschland
Weniger moralisieren!
Um es vorweg klar zu sagen: Der Verfasser dieser Zeilen ist sozialisierter Westdeutscher. Aber immerhin hat er 25 Jahre in Sachsen-Anhalt gelebt und gearbeitet, 19 Jahre als Wissenschaftler an der Universität, vier Jahre als Minister in einer Landesregierung, zwei Jahre als Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion. Gerne - und mit Stolz - bezeichnet er sich als "Wossi": westdeutsch geprägt, aber ostdeutsch gelebt.
Und noch etwas: Er hat die politischen Entwicklungen in den letzten Jahren nicht vorausgesagt. Wer hat das schon? Aber wenigstens ist er sich voll bewusst, dass alles, was er sagt, nicht mehr liefert als eine Deutung im Nachhinein - wie bei den Aktienkursen: Keiner sagt korrekt voraus, wie sich eine Aktie morgen entwickelt, aber jeder kann anschließend klug erklären, warum die Aktie gestiegen, gefallen oder gleichgeblieben ist. Also: größte Vorsicht auch bei meiner Deutung der Lage.
Beginnen wir mit einer simplen Beobachtung. Viele Westdeutsche schauen auf die Ostdeutschen oft wie auf eine merkwürdige Spezies - stets nach dem Motto: Warum wählen die nicht so wie wir, also deutlich weniger rechtspopulistisch, AfD und BSW (beide im Folgenden als "rechtspopulistisch" definiert, auch wenn das beim BSW eine etwas grobe Vereinfachung ist)? Westdeutsche definieren den Normalzustand West als gesamtdeutsche Norm. Das ist schon ein gewaltiger Fehler. Warum? Weil in vielen hochentwickelten Industrieländern der Welt - von den Vereinigten Staaten über Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich und die Schweiz bis nach Polen und Ungarn der Anteil der rechtspopulistischen Wähler weit näher an dem Anteil Ostdeutschlands als Westdeutschlands liegt. Ist also nicht eher der Osten als der Westen die Norm? Geht es möglicherweise um ein "globales" Phänomen, bei dem Westdeutschland eher hinterherhinkt? Und so weit hinkt Westdeutschland eben auch nicht hinterher, wenn man sich die Ergebnisse der AfD bei den letzten westdeutschen Landtagswahlen in Hessen und Bayern ansieht.
Woher kommt der Zuspruch für rechtspopulistische Parteien im Osten Deutschlands? Die Frage hat es in sich, lenkt sie doch - meines Erachtens zu Recht - den Fokus der Analyse weg von den Traumata der deutschen Teilung und Einheit als zentrale Begründung für den Rechtsruck des Ostens. Nirgendwo sonst hat es in den genannten Vergleichsländern (oder anderswo) eine Teilung und anschließend eine Wiedervereinigung gegeben - und trotzdem kam der Aufstieg von Trump, Le Pen, Meloni, Wilders sowie von FPÖ, SVP, PiS und Fidesz mit Orban.
Überall hat es aber eine fortschreitende "Modernisierung" der Gesellschaft gegeben. Auch die Richtung war - mit großen thematischen Varianten - überall dieselbe: Die Gesellschaft wurde kosmopolitischer und multikultureller, bunter und offener, toleranter und urbaner. Kurzum: Was den Lifestyle betrifft, wurde sie "linker". Vor allem rückten überall Ökologie und Klimapolitik mit gebieterischem moralischem Gestus auf die Tagesordnung - als Rettung der Welt vor dem Kollaps. Hinzu kamen überall seit Mitte der letzten Dekade Flüchtlingsströme der Zuwanderung und 2020 der Covid19-Gesundheitsschutz durch Einschränkung von Freiheitsrechten. Überall nahm das Stadt/Land-Gefälle des gefühlten Lebensstandards zu. Und überall forderte die politische Linke und linke Mitte, die den progressiven Lifestyle definierte, mehr "Wokeness" - und setzte sich damit bei den medial meinungsführenden Eliten recht mühelos durch, bis tief hinein ins breitere Bürgertum.
Überall verstärkte dies alles die Spaltung der Gesellschaft. Und es erhöhte den Widerstand all derer, denen diese Entwicklung - einfach formuliert - nicht gefiel. Ihnen wird ihre Gesellschaft zunehmend fremd, und dies paradoxerweise umso eher, je weiter entfernt sie von den urbanen Zentren der progressiven Schrittmacher wohnen und eigentlich noch recht geschützt vor dem neuen Lifestyle sind. Aber sie sehen diesen Lifestyle samt Fridays-for-Future und Letzter Generation sowie Asylsuchenden und Zuwanderern täglich in den Medien, und zwar zumeist nicht mit kritischen Kommentaren, sondern mit moralisierenden Lobpreisungen der neuen Entwicklung.
Davon haben sie genug. Sie haben, wie Christian Lindner es treffend formulierte, "die Schnauze voll". Sie wollen, dass ihre Probleme - und nicht die der "Anderen" - gelöst werden. Sie wollen "ihren" Platz in der Gesellschaft geschützt sehen, und zwar in allen genannten Bereichen – durch eine starke Wirtschaft, die Arbeitsplätze schafft und nicht ökologisch experimentiert, durch einen ländlichen Raum, der nicht verödet, durch Kontrolle der Grenzen vor illegaler Zuwanderung, durch generell mehr öffentliche Sicherheit. Das ist eine völlig legitime konservative Grundhaltung, die früher gesellschaftlich stets respektiert wurde.
Inzwischen wird sie aber von der politischen Linken und der linken Mitte zunehmend als "rechts" diffamiert, was im Westen die Menschen (noch?) beeindrucken mag, aber im Osten - und im Ausland - jede Wirkung verloren hat. Die Leute denken zunehmend: na und? Und sie sagen es auch an ihren Stammtischen. Nach dem Motto: Wenn's eben nicht anders geht, dann lassen wir uns beschimpfen - so wie die Trump-Anhänger in den Vereinigten Staaten das herablassende Prädikat "The Deplorables" (die Bedauernswerten), das ihnen 2016 Hillary Clinton im Wahlkampf anheftete, mit trotzigem Stolz auf ihren T-Shirts trugen. Im Übrigen finden die Voten für AfD und BSW ohnehin im Geheimen statt – in der Anonymität einer Umfrage oder in der Stille der Wahlkabine. Wenn man sich nicht ständig zur Politik äußert, kann der Protest personell nicht zugeordnet werden. Nur die allerwenigsten der fast 43 Prozent AfD- und BSW-Wähler ins Brandenburg und Sachsen sowie fast 49 Prozent in Thüringen haben im Vorfeld öffentlich ihre politische Meinung kundgetan.
Sind dies dann alles Rechtsextreme oder gar Nazis? Natürlich nicht. Es sind, wenn man so will, enttäuschte Konservative. Sie ziehen nicht mit Braunhemden auf die Straße, zumal im gewaltigen Unterschied zu 1933 die Arbeitslosigkeit nicht über 30 Prozent, sondern bei 6 bis 7 Prozent der Erwerbspersonen liegt. Sie wollen gehört werden und auch politischen Einfluss haben, so wie die politische Linke und die linke Mitte. Deswegen auch der Popularitätsabsturz der Ampel-Koalition, übrigens ohne dass die meisten Kritiker der Ampel im Detail wissen, was die Regierung Konkretes geleistet oder versäumt hat. Es ist ein Bauchgefühl, unter dem die SPD, die Grünen und vor allem auch die Liberalen leiden, weil die FDP von den drei Parteien am wenigsten links steht und deshalb unter ihren Sympathisanten die Frustration besonders groß ist.
Was kann man tun, um die Wählerschaft von AfD und BSW zurückzugewinnen? Theoretisch ist die Antwort einfach: weniger endlos moralisieren, mehr entschlossen handeln, die Anliegen der enttäuschten Konservativen wirklich ernst nehmen und adressieren. Vor allem auch allen Menschen in der Gesellschaft das Gefühl geben dazuzugehören. Man muss aus seiner eigenen Blase heraus, und das kostet Überwindung, da es viel schöner ist, sich selbst immer wieder ethisch und politisch bestätigt zu sehen. Aber ohne dieses Gespräch wird der Brückenschlag nicht gelingen. Und das wäre dann wirklich eine echte Bedrohung unserer Demokratie.
Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er hat 25 Jahre in Magdeburg gelebt und gearbeitet, als Hochschullehrer und zeitweise als Finanzminister Sachsen-Anhalts. Er kennt West und Ost.