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Die Vielfalt Marokkos – aufgedeckt durch Kunst
Ausstellung „Bayt Al Fenn - Chkoun Ana?“ in Rabat

Les différences ne gâchent pas la convivialité

„Chkoun Ana“ (Wer bin ich)? Diese Frage beschäftigte ein Kollektiv aus elf marokkanischen Künstlerinnen und Künstlern während der diesjährigen Ausgabe der Künstlerresidenz "Bayt Al Fenn" (Haus der Kunst), einem gemeinsamen Projekt der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der marokkanischen Kulturstiftung HIBA. Im Rahmen einer Ausstellung in der Nationalbibliothek in Rabat durfte die Öffentlichkeit nun die Werke entdecken, mit denen die Künstlerinnen und Künstler die Leitfrage beantworten.

Während sich die meisten Künstlerresidenzen auf eine bestimmte Disziplin konzentrieren, verfolgt Bayt Al Fenn einen multidisziplinären Ansatz und öffnet seine Türen für aufstrebende Maler, Musiker, Poetry Slammer, Street Artists, Grafikdesigner und Rapper gleichermaßen. Daher sind die Antworten auf die Identitätsfrage nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer Darbietungsform höchst unterschiedlich. Ausstellungsbesucher können die Werke nicht nur ansehen, sondern auch anfassen und anhören.

Das diesjährige Motto "Wer bin ich?" regte nicht nur die Besucher der Vernissage und der anschließenden Ausstellung zu intensiven Diskussionen an, sondern auch das Künstlerkollektiv während der neuntätigen Residenz in einer abgelegenen Eco-Lodge. Fragen der Identität sind für junge Marokkanerinnen und Marokkaner, die beim Start in ihr Erwachsenenleben nach Orientierung suchen, von großer Bedeutung. Sie diskutieren über die kulturelle und geografische Identität ihres Landes an der Schnittstelle zwischen Afrika, Europa und der arabischen Welt. Sie sind sich der unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Rollenmodelle bewusst, die sich aus der arabischen und der Berberkultur sowie aus Tradition und Moderne speisen. Und selbstverständlich wollen sie eigene Lebensstile verfolgen und definieren neue Ideale der Selbstverwirklichung.

All diese unterschiedlichen Einflüsse und Überlegungen tragen dazu bei, dass Marokko ein kulturell enorm reiches und vielfältiges Land ist. Diese Vielfalt ist jedoch nicht immer sichtbar und manchmal durch vermeintliche Normen verdeckt, was junge Marokkanerinnen und Marokkaner verwirren oder frustrieren kann. Mit seiner diesjährigen Ausgabe möchte Bayt Al Fenn die beachtliche Vielfalt der marokkanischen Gesellschaft aufdecken und dazu beitragen, vermeintliche Normen in Frage zu stellen und junge Menschen zu ermutigen, auf ihre Weise zu leben und sich zu entfalten. Jeder der Protagonisten hat dabei seinen ganz eigenen Weg gefunden:

Der bildende Künstler Ilyesse Nouhi hat die Vielfalt der Lebensstile in Marokko mit einer drehbaren, radförmigen Collage eingefangen, die so viele Details enthält, dass die Betrachter sie oft minutenlang studieren. Dabei kommen sie womöglich zu einem ähnlichen Schluss wie der Künstler selbst: "Unterschiede verderben nicht die Geselligkeit".

Die plastische Künstlerin Aicha Abou schuf eines der auffälligsten und definitiv schwersten Kunstwerke, eine farbenfrohe Skulptur einer Berberin mit traditionellen Berber-Tätowierungen, die an das Selbstbewusstsein, die Unabhängigkeit und die Macht der Frauen in den traditionellen Berber-Gesellschaften erinnert.

Das Multitalent Anass Doujdid sorgte mit seinem Stop-Motion-Video, das alle zeremoniellen Elemente und Etappen einer marokkanischen Hochzeit mit traditionellen Gegenständen zeigt, für Unterhaltung und Überraschung. Das letzte Bild zeigt einen Tropfen Blut auf einer Serviette und lässt dem Betrachter wenig Spielraum für Interpretationen.

Dies sind nur drei von elf Beispielen dafür, wie aufstrebende marokkanische Künstler die Frage "Wer bin ich?" beantworten. Kunst ist immer eine mächtige Sprache, aber in Marokko ist sie es erst recht.

Das Land ist ein Wirrwarr von Sprachen. Darija (marokkanisches Arabisch), klassisches Arabisch, Tamazigh (Berber), Französisch und sogar Spanisch und Englisch funktionieren bis zu einem gewissen Grad, aber keine einzige Sprache ist der Schlüssel zum Königreich. Wenn es eine solche universell gesprochene Sprache gäbe, könnte es die Kunst sein. Kunsthandwerk und Kunst sind seit Jahrhunderten Bestandteil der marokkanischen Kultur und werden auf der ganzen Welt geschätzt. Heute koexistieren in der marokkanischen Kunstszene traditionelle Disziplinen wie Malerei, Musik oder Architektur nebeneinander mit modernen Ausdrucksformen wie Rap, Graffiti oder Poetry Slam. Musikfestivals gibt es zuhauf, und die alten Medinas sind heute voll von modernen Wandmalereien.

Bayt Al Fenn knüpft an diese Tradition an, indem es jungen Künstlern eine Bühne bietet und die Werte der Vielfalt und der Integration fördert. Die 2022-er Ausgabe von Bayt Al Fenn bleibt digital zugänglich unter www.baytalfenn.org. Interessierte können Bayt Al Fenn außerdem auf Instagram und Facebook folgen, sich vergangene Ausgaben ansehen oder ein Thema für 2023 vorschlagen.