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Marokko
Zwischen öffentlichem Outing und innerem Kampf – Vom facettenreichen Widerstand queerer Menschen in Marokko

In Marokko kämpft die LGBTQ+ Community trotz rechtlicher Diskriminierung und gesellschaftlicher Homophobie für ihre Sichtbarkeit.

In Marokko kämpft die LGBTQ+ Community trotz rechtlicher Diskriminierung und gesellschaftlicher Homophobie für ihre Sichtbarkeit.

© picture alliance/United Archives | Walter Rudolph

Queer sein in Marokko hat viele Gesichter: Einerseits sind Stigmatisierung und offene Homophobie keine Seltenheit, andererseits findet man Toleranz und Freiheit da, wo man sie auf den ersten Blick vielleicht nicht vermuten würde. Das Leben queerer Menschen erzählt mehr als die Geschichte einer marginalisierten Community, sondern porträtiert eine Gesellschaft der Gegensätze, welche sich in einem dynamischen Wandlungsprozess mit noch offenem Ende befindet.

Seit 1988 wird jährlich am 11. Oktober der sogenannte „Coming-out Day“ gefeiert, welcher LGBTQ+ Personen ermutigen soll, öffentlich für ihre sexuelle Orientierung und Gender-Identität einzustehen. Dieser Tag macht ebenfalls auf all diejenigen aufmerksam, die keine Möglichkeit haben, sich zu outen und steht damit stellvertretend auch für alle unsichtbar gemachten und ausgeblendeten queeren Menschen. Bezüglich der Frage, welche Bedeutung die eigene Sichtbarkeit für queere Personen hat und wie trotz massiver Einschränkungen Freiräume in feindseligen Umgebungen bestehen können, lohnt sich ein Blick nach Marokko.

Der muslimisch geprägte Staat, in welchem seit jeher die verschiedenen Kulturen aufeinandertreffen, gilt als Bindeglied zwischen Europa und Afrika, sowie zwischen der westlichen und der arabischen Welt. In dieser heterogenen und von Gegensätzen geprägten Gesellschaft versucht sich eine kleine, aber stetig wachsende LGBTQ+ Community zu behaupten und für ihre Sichtbarkeit einzustehen. Marokko ist stark hierarchisch geprägt und für viele Marokkaner ist es der zentralistische Staat und allen voran der religiös legitimierte Monarch, welcher das Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen bewahrt und Marokko zu einem Stabilitätsgaranten in Nordafrika macht. So gehört der Balanceakt, zwischen der modernen und kosmopolitisch Lebensrealität vieler Großstädter auf der einen und einer reaktionären islamischen Weltanschauung auf der anderen Seite, genauso zu Marokko, wie der Aufbruchswillen der optimistischen Jugend oder die Angst vieler Menschen, die eigenen kulturelle Identität nicht bewahren zu können. Wie organisiert sich die queere Community angesichts dieser gesellschaftlichen Dynamiken und wie schafft sie es, Räume der Freiheit auszuloten und für sich zu beanspruchen?

Das Titelfoto ist ein Werk des marokkanischen Künstlers und Fotografen Achraf Khalis welches im Rahmen der Künstlerresidenz „Bayt Al Fenn“ entstanden ist, die vom American Arts Center Casablanca in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung in Marokko organisiert wird.

Das Foto ist ein Werk des marokkanischen Künstlers und Fotografen Achraf Khalis welches im Rahmen der Künstlerresidenz „Bayt Al Fenn“ entstanden ist, die vom American Arts Center Casablanca in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung in Marokko organisiert wird.

© Achraf Khalis

Strukturelle Homophobie: Mehr als nur komplexen Rahmenbedingungen

Laut Marokkos Strafgesetz sind „unzüchtige oder widernatürliche Handlungen mit einer Person gleichen Geschlechts“ (Artikel 489) strafbar.[1] Mit Blick auf die Verfassung von 2011, welche Homosexuellen zwar keinen rechtlichen Schutz gewährleistet, aber jedem Bürger das Recht auf Intimsphäre zusichert, wird eine für Marokko fundamentales Prinzip deutlich: die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich. Hinter verschlossenen Türen werden Freiräume toleriert und homosexuelle Handlungen in der Regel nicht belangt. Andere Themen wie Prostitution und vorehelicher Sex zeigen in dieser Hinsicht Parallelen zu Homosexualität, da auch diese illegal und oft tabuisiert sind, individuelle Freiheiten aber zu einem gewissen Maß neben den rigiden religiösen und staatlichen Strukturen koexistieren können.

Das Unverständnis vieler Politiker für die Belange queerer Menschen und der mangelnde rechtliche Schutz – auch vor Übergriffen und Selbstjustiz – stellen laut vieler LGBTQ+ Personen heutzutage eine der größten Herausforderungen dar. Angesichts der 2023 angestoßenen Reform des Strafgesetzes setzen sich Akaliyat, eine der wenigen aktiven NGOs in diesem Bereich, für die Anhörung von Vertretern der LGBTQ+ Community im Reformprozess ein.[2] Bislang ist ein Dialog auf Augenhöhe und eine aktive Teilhabe an der Debatte jedoch so gut wie aussichtslos, was im Hinblick auf die homophoben Aussagen des ehemaligen Justizministers Mustafa Ramid, welcher Homosexuelle als „Müll“ abwertete und ihnen riet, am besten das Geschlecht zu wechseln,[3] nicht verwunderlich scheint.

Besonders die starren gesellschaftlichen Normen, wie die patriarchalen Geschlechtervorstellung haben weiterhin einen großen Einfluss, auch innerhalb der Community. Die allermeisten queeren Menschen versuchen sich den dominanten Rollenbildern unterzuordnen und haben deshalb oft mit internalisierter Homophobie und Selbsthass zu kämpfen. Auch wenn die medizinische Grundversorgung, zumindest in den Städten, in Form der HIV-Präventionsstellen relativ gut gesichert ist, bestehen besonders im Bereich psychologische Betreuung so gut wie keine Angebote, die als vertrauenswürdig wahrgenommen werden. In Form von Ad-hoc-Workshops versuchen Teile der Community dementsprechend neue Angebote zu konzipieren und auf lokaler Ebene umzusetzen. Für viele junge Menschen sind diese Community-Treffen, die erste Erfahrung mit einem sogenannten safe space, in welchem sie sich frei ausdrücken und ausleben können, was für viele einen wichtigen Moment in der Konstituierung der eigenen Identität darstellt. Eine junge non-binäre Person aus Marrakesch berichtet: „So zu tanzen und mich zu kleiden, wie ich es will, ohne einem maskulinen Ideal entsprechen zu müssen, kann ich nur hier; deshalb sind diese Momente für uns so wichtig.“

Von Vielen werden liberale westliche Staaten oft als Inspiration gesehen, doch bei den jungen Erwachsenen fällt auf, dass sie ihre queere Identität in Symbiose mit der eigenen Kultur und Religion ausdrücken. Man kann nur vermuten, auf welch wertvolle Weise diese Individuen allein aufgrund ihrer Ausdrucksstärke und ihres Stolzes die marokkanische Gesellschaft und Kultur bereichern und stärken würden, wäre diese nur ein bisschen offener und inklusiver. Doch auch wenn diese Minderheit seit jeher zu Marokko gehört, bleibt sie weiterhin stigmatisiert. Viele Akteure wollen ihre jahrhundertealte Existenz entweder nicht wahrhaben, oder die LGBTQ+ Community wird als vermeintlich destabilisierender Eindringling zu einem externen Feindbild sterilisiert. So ist dies nur einer der multiplen Gründe, warum man sich in der Community immer mehr vom Westen distanziert. Ein weiterer nennenswerter Grund entspringt dem Postkolonialismus: „Es waren die Franzosen, welche Anfang des 20. Jahrhunderts ihre auf Rassismus und Unterdrückung basierenden Moralvorstellungen und mit ihnen die in Frankreich bereits abgeschafften Sodomie-Gesetze nach Marokko brachten. Nur dadurch konnte eine konservative Sexualmoral radikaler Muslime den liberalen Islam in Marokko ablösen“ erklärt ein Aktivist eines queeren Künstlerkollektivs. Er beschreibt weiter: „Lange Zeit war Frankreich für uns ein wichtiges Vorbild, doch warum sollte man sich an jemandem orientieren, der auf dem absteigenden Ast sitzt? In Europa kriege man die Probleme ja auch nicht in den Griff.“ Ein pansexueller Amazigh (der korrekte Begriff für die große Bevölkerungsgruppe der „Berber“) aus dem ländlich geprägten Atlas ergänzt: Marokko sei kein liberales Land, aber es gehe anarchischer und wilder zu, als in anderen Teilen der Welt, Freiheit finde man deshalb überall: Man müsse sie nur suchen.

Wo die Freiheit zu finden ist

Ein Beispiel, welches man in diesem Kontext heranziehen kann, sind die sozialen Medien. Einerseits sind sie ein zentraler Kommunikationskanal und essenziell für die Organisation von Veranstaltungen der Community. Andererseits nehmen sie, was das Kennenlernen anderer queerer Menschen in der eigenen Umgebung betrifft, eine wichtige Rolle ein. Doch auch wenn das Internet neue Freiheiten mit sich bringt, birgt es ebenfalls gewisse Gefahren, wie sich an einer Zwangsouting-Aktion im Jahr 2022 zeigt. Hierbei wurden hunderte Profile von Dating Plattformen geleakt und öffentlich denunziert[4]. „Dieses Ereignis war für viele traumatisierend“ berichtet ein 21.-Jähriger aus Rabat. Er kenne Menschen, die alles verloren hätten und mitten in der Pandemie von ihrer Familie verstoßen wurden. „Die Angst, auch geoutet zu werden war definitiv da“ berichtet er; sich selbst zu outen käme für ihn auch deshalb niemals infrage.

Ein anderer junger Mann aus dem Süden Agadirs äußert sich zu dem Thema Outing wie folgt: „Vielleicht weiß mein Umfeld, dass ich schwul bin, wahrscheinlich ahnt meine Mutter es bereits; aber was nicht ausgesprochen wurde, existiert nicht und solange ist es kein Problem. Erst wenn es öffentlich ist, muss man sich als Familie dazu positionieren und da steht dann auf einmal sehr viel mehr auf dem Spiel.“

Es gibt jedoch auch andere Beispiele von offen queeren Menschen, für die das Outing weniger ein Problem darstellte. Von einem Designer aus der hippen Hafenstadt Essaouira heißt es, er wäre bereits als Kind ein „schräger Vogel“ gewesen; man kenne seine Extravaganz in der lokalen Community, dass er da auch noch homosexuell ist, hätte keinen sonderlich verwundert. Ein problemloses Outing, sowie auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit bleiben in Marokko jedoch ein Privileg, das vom sozialen Status, der Erziehung, dem Wohnort und besonders dem Geldbeutel abhängt. Freiheit ja, aber eben nicht überall und nicht für jeden.

Auch Transgeschlechtlichkeit wird, zumindest in urbanen Gebieten, immer öfter von der Gesellschaft akzeptiert und so gibt es einige prominente Beispiele von Transpersonen und deren Outings, welche nicht zuletzt durch soziale Medien in besonderer Weise zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen. Die Frage, inwiefern das hegemoniale Männlichkeitsverständnis Marokkos einen Einfluss auf die Freiheit unterschiedlicher queerer Personengruppen hat, ist jedoch nur schwer abzuschätzen. Sowohl die männliche Identität als auch das konservative Rollenbild scheint angesichts zunehmender wirtschaftlicher Zwänge und feministischer Debatten jedoch in den letzten Jahren angekratzt (die deklamatorisch renitente Überhöhung eigenen Maskulinität ist hierfür selbstverständlich kein Indiz). Dies wirkt sich wiederum negativ auf nicht konforme Gruppen wie non-binäre und intergeschlechtliche Menschen aus, welche es wagen, durch ihre bloße Existenz, die Schwarz-Weiß-Utopie der unschuldigen Bevölkerung zu stören.

Angesichts der stark fragmentierten Gesellschaft scheint man sich in der queeren Community jedoch hiermit abzufinden: Solange die radikalen Islamisten am anderen Ende des Spektrums noch weniger toleriert werden, als man selbst und man zumindest nicht um sein eigenes Leben fürchten muss, wäre das eben der Preis, den man für den sozialen Frieden zahlen müsse. Für viele der grassroot-Aktivisten und Aktivistinnen ist es ein Kampf im Stillen, für bessere Strukturen, Rückzugsorte und das Austarieren neuer Freiräume, anstatt für mehr Sichtbarkeit und öffentliche Präsenz. Man hat sicher nicht das Recht, diese Entscheidung aus einem eurozentrischen Blickwinkel heraus zu beurteilen, denn Mut und Optimismus fehlt den Wenigsten. Queere Menschen in Marokko verdienen vielmehr Verständnis für den komplexen Kampf, den sie mit sich, ihren eigenen Kulturen, und einem paternalistischen Staat tagtäglich austragen.

Ein Coming-out als politische Botschaft ist für die LGBTQ+ Community ein wichtiges Instrument, um für Akzeptanz und gegen Stigmatisierung einzustehen, doch sollten an einem Tag, wie dem 11. Oktober auch all die nicht vergessen werden, die sich nicht aktiv zu der Community und ihrer Identität bekennen können und im Schatten den Weg für gleiche Rechte und universelle Freiheit aller Menschen ebnen. Ein Aktivist von SIBA Mena fasst es wie folgt zusammen: „Ich lebe offen als queere Person und trage zur Sichtbarkeit auch all der Menschen bei, die das selbst nicht können. Auch wenn der Gegenwind immer stärker wird, am Ende geht es darum, die errungene Freiheit zu verteidigen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber der Kampf, den wir führen, er bleibt zäh und langwierig“. Er ergänzt zudem, dass er der Zukunft voller Optimismus entgegenblicke, denn die Angst habe er längst abgelegt.

Linus Hiemer ist Student in Politik- und Sozialwissenschaften sowie in Genderstudies an der Freien Universität Berlin und Sciences Po Paris. Er schreibt politische Analysen für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko und hat dort vor kurzem ein mehrmonatiges Praktikum abgeschlossen.

Hinweis des Autors: Alle Zitate sind freie Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen und Spanischen.