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Nahost-Konflikt
Die Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf Israel und die MENA-Region

Angehörige der israelischen Streitkräfte beobachten, wie das Luftabwehrsystem Iron Dome im Norden Israels Raketen abfängt

Angehörige der israelischen Streitkräfte beobachten, wie das Luftabwehrsystem Iron Dome im Norden Israels Raketen abfängt.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Leo Correa

Am 7. Oktober jährte sich der brutale Angriff der Hamas auf Südisrael, bei dem mehr als 1.200 Menschen ermordet und über 250 Personen, die große Mehrheit Israelis, als Geiseln nach Gaza verschleppt wurden. Ungefähr 100 Geiseln wurden nach Verhandlungen im Austausch für palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen frei gelassen. In einigen wenigen Fällen wurden Geiseln durch Militäroperationen befreit. Wie viele der weiterhin ungefähr 100 Geiseln in Gaza noch am Leben sind, ist unbekannt, nicht zuletzt, da viele von Hamas-Terroristen ermordet wurden oder bei israelischen Luftangriffen ums Leben gekommen sind.

Israel hat auf den Terrorangriff mit einem massiven und bis in die Gegenwart andauernden Militäreinsatz geantwortet mit dem Ziel, die Hamas zu zerstören und die Geiseln zu befreien. Diese Militäroperation hat sich zu einem veritablen Krieg zwischen Israel und der Hamas und ihren Verbündeten ausgeweitet, dem zehntausende Palästinenser – Terroristen und Zivilbevölkerung – zum Opfer gefallen sind, in dem die Infrastruktur und die Bausubstanz des Gazastreifens weitgehend zerstört wurde und der die beständige Gefahr einer weiteren regionalen Eskalation in sich birgt.

Ein Ende des Konflikts ist nicht absehbar. Im Gegenteil: Zusätzlich zur bereits eingetretenen Eskalation im Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Terrororganisation Hisbollah besteht weiterhin das akute Schreckensszenario eines regionalen Kriegs zwischen Israel und dem Iran sowie der vom ihm angeführten sogenannten „Achse des Widerstands“. Diese umfasst neben Hamas und Hisbollah u.a. auch die Huthis im Jemen und Milizen in Syrien und im Irak.

Der Nahost-Konflikt droht, zum Flächenbrand zu werden und mehr oder weniger die gesamte MENA-Region politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich miteinzubeziehen. Während die Akteure der vom Iran finanziell, militärisch und technologisch unterstützten Achse und zunehmend auch der Iran selbst militärisch in den Konflikt involviert sind, wirkt sich der Krieg auch drastisch auf viele Länder der Region aus, die nicht Konfliktpartei sind, so u.a. auf Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Tunesien, Marokko, Syrien und den Irak. In erster Linie sind allerdings Ägypten und Jordanien durch ihre unmittelbare Nachbarschaft zum Konfliktgebiet durch den Krieg betroffen. Für Jordanien, dessen Bevölkerung mehrheitlich palästinensischen Ursprungs ist, gilt dies in besonderem Maße.

In diesem Beitrag beleuchten die vier Autoren Jörg Dehnert (Amman), Kristof Kleemann (Jerusalem), Alexander Knipperts (Tunis) und Sebastian Vagt (Rabat) die gegenwärtige Situation und die Auswirkungen des Konfliktes auf die MENA Region. Der Fokus liegt hierbei vor allem auf Israel, den palästinensischen Autonomiegebieten, dem Libanon, Jordanien, Marokko, Tunesien und Ägypten, allesamt Bürostandorte der Stiftung für die Freiheit.

  • Die Stimmung in Israel ist trotz der eindeutigen militärischen Überlegenheit gegenüber der Hamas und der Hisbollah unbestreitbar düster. Ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht; weiterhin befinden sich mehr als 100 Geiseln in den Händen der Hamas, eine weitere Eskalation mit dem Iran ist nach dem Angriff vom 1. Oktober 2024 aus Teheran wahrscheinlicher geworden, und die Spannungen in der Gesellschaft bleiben hoch. Die Zeit scheint am 7. Oktober 2023 stehen geblieben zu sein, als die Hamas das größte Massaker an Juden seit der Shoah verübte und das Sicherheitsversprechen Israels an die eigenen Bürger in Frage stellte. Für viele Israelis markiert dieses Datum daher einen Wendepunkt zwischen „Vorher“ und „Nachher“. Dabei wird die israelische Gesellschaft von zwei gegensätzlichen Kräften beeinflusst: Einheit und Polarisierung. Einerseits vereint der Krieg die Menschen unter dem Slogan „Nur gemeinsam werden wir gewinnen“. Dies verkörpert das israelische Verständnis von „Wir sitzen alle im selben Boot“ und richtet den politischen Diskurs neu aus, weg vom traditionellen Kampf zwischen Rechts und Links, hin zu Zionisten und dem Rest. Auch im aktuellen Konflikt mit der Hisbollah besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass die über 70.000 evakuierten Bewohner aus den nördlichen Städten und Ortschaften Israels, die seit einem Jahr unter täglichem Beschuss der Hisbollah stehen, zurückkehren müssen und dass die Einhaltung der Resolutionen 1701 und 1559 des UN-Sicherheitsrates und damit die Sicherheit an der Nordgrenze zum Libanon notfalls auch mit Gewalt erzwungen werden muss.

    Andererseits verstärkt sich die politische Spaltung im Land weiter. Während die rechtsgerichteten Kräfte das Massaker vom 7. Oktober vor allem dem Versagen der Sicherheitsbehörden zuschreiben, sieht die Opposition ein Versagen der politischen Führung, allen voran bei Ministerpräsident Netanjahu und seinen extremistischen Ministern. Einer der größten Streitpunkte, der das Land gegenwärtig tief spaltet, bleibt die Frage, wie die Befreiung der Geiseln herbeigeführt werden soll. Dabei vertritt ein großer Teil der Rechten den Ansatz, dass nur massiver militärischer Druck die Hamas in die Knie zwingen kann, und lehnt ein Einlenken in den Verhandlungen mit der Terrororganisation ab. Das linksgerichtete Lager dagegen unterstützt die Familienangehörigen der Geiseln und deren Forderung nach einem sofortigen Abkommen mit der Hamas und sieht die Befreiung der Geiseln als höchste moralische Pflicht und als Priorität vor allen anderen Kriegszielen. Zudem besteht der alte Streit um die sogenannte Reform des Justizsystems und die Angst vor einem demokratischen Rückschritt fort. Dies steht zwar nicht mehr im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses, ist dadurch aber umso gefährlicher, weil es als Vorwand für fragwürdige innenpolitische Maßnahmen dienen kann, wie das jüngste Verbot von Versammlungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern und damit einhergehend dem de facto Demonstrationsverbot zum Jahrestag des 7. Oktobers. Auch mit Blick auf die regionalen Entwicklungen im Nahen Osten bestehen grundlegende Unterschiede. Die Kräfte der Mitte wünschen sich ein Bündnis der gemäßigten arabischen Staaten mit westlicher Unterstützung – und wollen Israel in diese Allianz einbinden. Die rechten Kräfte sehen dagegen ein Kräftemessen, in dem allein Abschreckung und militärische Stärke der Schlüssel zum Überleben sind. Dies sind zwei sehr unterschiedliche Auffassungen, die die Politik Israels in Zukunft beeinflussen könnten.

    Der aktuelle Krieg hat zudem die geeinte Opposition aus der Zeit der Justizreform zerbrochen. Gemäßigte Wähler des rechten Flügels drängen auf eine „Falken-Politik“ in Gaza/Libanon und geraten in Konflikt mit den gemäßigten Verbündeten der Opposition, die den Schwerpunkt auf ein Geiselabkommen setzen. Dazu kommen unterschiedliche Ansätze hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit der Regierung. Oppositionsführer Lapid bot eine Zusammenarbeit nur unter Ausschluss der extremistischen Minister Ben-Gvir und Smotrich an. Konkurrent Gantz ist der Regierung am Anfang des Krieges ohne weitere Bedingungen beigetreten. Auch wenn er sie inzwischen wieder verlassen hat, wird eine konstruktive Zusammenarbeit innerhalb der Opposition zunehmend schwierig. Insgesamt erweist sich die Regierungskoalition auch deshalb als erstaunlich stabil. Die Erwartungen vieler Beobachter, vorgezogene Neuwahlen wären nur eine Frage der Zeit, haben sich bisher nicht bewahrheitet.

    Neben der Kritik am Umgang mit den Geiselverhandlungen zielt die Kritik der Opposition vor allem auf die wirtschaftliche Situation im Land. Die israelische Wirtschaft soll zwar nach Berechnungen der israelischen Zentralbank in diesem Jahr um ca. 1.5% wachsen, was angesichts der enormen Herausforderungen auf den ersten Blick die Resilienz der israelischen Wirtschaft unterstreicht. Doch liegt das Wirtschaftswachstum unter dem Bevölkerungswachstum i.H. von 2%, so dass pro-Kopf ein Wohlstandsverlust verzeichnet wird. Dazu kommen höhere laufende militärische und zivile Ausgaben zur Finanzierung des Krieges, die das israelische Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf 8,1 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung ansteigen lässt. Mehrere Ratingagenturen haben daher die Kreditwürdigkeit Israels zurückgestuft. Die Opposition in Israel kritisiert dabei vor allem die unverantwortliche Haushaltsführung der Regierung, die Weigerung, die Einberufung der Ultraorthodoxen voranzutreiben, und das rücksichtslose Taktieren des Justizministers Yariv Levin, der sich weigert, einen neuen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs zu ernennen, und daran arbeitet, das Rechtssystem weiter zu schwächen.

    International fühlt sich Israel zunehmend isoliert und missverstanden. Die einseitige Anerkennung Palästinas durch mehrere EU-Mitgliedsstaaten haben viele zusätzlich als Bestätigung empfunden, dass sich auch der Westen vermehrt gegen Israel stellt. Viele Israelis sehen deshalb die USA und mit einigen Abstrichen auch Deutschland als die wichtigsten verbliebenen Verbündeten an. Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierung Netanjahu die USA bei wichtigen Kriegsentscheidungen mehrfach übergangen hat. Trotzdem sollten die engsten Partner Israels weiter engagiert bleiben und das Land innerhalb internationaler Organisation unterstützen, denn nur so können Deutschland und die USA wirkungsvoll Einfluss nehmen und die offensichtlichen Fehlentwicklungen offen ansprechen. Und auch wenn Frieden in der Region derzeit sehr weit entfernt scheint, unterstützt laut einer Umfrage des israelischen Forschungsinstituts „MITVIM“ eine relative Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit (44%) ein Abkommen, das eine Normalisierung mit Saudi-Arabien, die Schaffung eines entmilitarisierten palästinensischen Staates und ein regionales Verteidigungsbündnis unter amerikanischer Führung beinhaltet[2]. Darauf könnte dann auch die deutsche Außenpolitik aufbauen und gemeinsam mit den amerikanischen und regionalen Partnern eine neue diplomatische Initiative für den Nahen Osten ins Leben rufen, die auch Jerusalem zu Zugeständnissen zwingen könnte. Klar ist: mit der aktuellen Regierung in Jerusalem ist ein Anlauf für Friedensverhandlungen nur schwer vorstellbar; aber ein neuer Ansatz für die Zukunft der Region nach dem Konflikt ist heute dringender denn je.

    Kristof Kleemann leitet das Jerusalemer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

  • Fast ein Jahr nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 und dem Ausbruch des Krieges zwischen Israel und der Hamas und mehr als drei Monate nach der Verabschiedung der Resolution 2735, in der ein von den USA angekündigter Waffenstillstandsvorschlag begrüßt wurde, scheinen die Aussichten auf ein Ende der Kriegshandlungen in Gaza gering. Es vergeht kaum ein Tag ohne neue militärische Angriffe und Opfer, die Verhandlungen über ein Geiselabkommen sind angesichts der Eskalation im Libanon und mit dem Iran in den Hintergrund getreten. Allerdings scheint die intensivste Phase des Gaza-Konflikts zu Ende zu gehen: Da die Hamas militärisch geschwächt ist, hat die israelische Führung ihren Schwerpunkt nach Norden verlagert und greift die Führer und Einrichtungen der Hisbollah im Libanon an.

    Der 7. Oktober und der darauffolgende Krieg im Gazastreifen stellen für viele Menschen in den palästinensischen Gebieten eine Zäsur dar. Das Ausmaß der Verluste und der Zerstörung im Gazastreifen hat das Gefühl der Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung vertieft. Die Situation schürt die Angst vor der Zukunft, sowohl in Gaza als auch in den übrigen palästinensischen Gebieten. Umfragen zur Haltung der palästinensischen Bevölkerung zeichnen zudem ein düsteres Bild für die Zukunft. Weiterhin kann die Hamas bei Umfragen auf eine breite Zustimmung setzen, und immer noch hält eine Mehrheit die Entscheidung der Hamas, den Terrorangriff vom 7. Oktober zu verüben, für „richtig“. Auch wenn diese Werte seit Beginn des Krieges vor allem im Gazastreifen kontinuierlich abgenommen haben, machen sich doch wenige Hoffnung für eine Lösung des Konfliktes. Dazu kommen Spannungen zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und der Bevölkerung im Westjordanland. Korruption und Repressionen gegen die Zivilgesellschaft sind an der Tagesordnung. Viele Palästinenser und Palästinenserinnen kritisieren die PA wegen ihrer mangelnden Legitimität, ihren unklaren Positionen und ihres Versagens, die Palästinenser vor der zunehmenden Gewalt durch Siedler zu schützen. Die Kluft zwischen der nicht gewählten Führung und dem palästinensischen Volk wird deshalb immer größer, und Meinungsumfragen zeigen, dass 90 Prozent der Palästinenser den Rücktritt des 88-jährigen Abbas fordern.

    Dazu kommen die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges, gerade in den Schlüsselsektoren wie Handel, Tourismus und Bauwirtschaft. Kleine und mittlere Unternehmen, die das Rückgrat der palästinensischen Wirtschaft bilden, sind besonders betroffen und mussten erhebliche Umsatz- und Gewinneinbußen hinnehmen. Insgesamt hat die palästinensische Wirtschaft bis Ende 2023 8,7 % ihrer Wirtschaftskraft verloren, bis Ende 2024 könnte der Verlust auf 29 % ansteigen, wenn der Konflikt weiter anhält. Die Arbeitslosigkeit ist auf 46,1% gestiegen, und mehr als 100.000 Palästinenser und Palästinenserinnen haben ihre Arbeitserlaubnis für Tätigkeiten in Israel verloren. Die israelischen Wirtschaftssanktionen, von denen die offensichtlichste die Einbehaltung eines Großteils der für die PA erhobenen Steuern ist, legen zudem die palästinensischen Institutionen lahm. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die im Westjordanland für die Polizei, Schulen und viele andere Aufgaben zuständig ist, konnte ihren Mitarbeitern in den letzten anderthalb Jahren daher nicht die vollen Gehälter auszahlen.

    Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kam es im Juli 2024 zur „Pekinger Erklärung", der jüngste Versuch, die innerpalästinensische Spaltung zu überwinden und die nationale Einheit zu stärken. Hamas und Fatah hatten bereits 2011 in Kairo und elf Jahre später in Algier ähnliche Erklärungen unterzeichnet, deren Bestimmungen jedoch nie umgesetzt wurden. In Peking unterzeichneten die Abgesandten von Hamas und Fatah im Beisein des chinesischen Außenministers Wang Yi erneut ein Abkommen, diesmal sogar gemeinsam mit zwölf weiteren Palästinensergruppen. Künftig soll eine Regierung der Nationalen Einheit den Gazastreifen und das Westjordanland regieren – auch Wahlen sollen abgehalten werden. Doch ob das hilft, ist fraglich. Nicht nur Israel hat eine Beteiligung der Hamas an einer künftigen Regierung in Gaza kategorisch ausgeschlossen. Auch im Westen und in den gemäßigten arabischen Staaten hat die Hamas nicht erst seit dem 7. Oktober keinerlei Legitimität. Und auch bei den Führungsriegen der Fatah ist sie – Annäherung hin oder her – zutiefst verhasst. Deshalb gehen die meisten Beobachter ohnehin davon aus, dass die Vereinbarung das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben ist.

    Die internationale Gemeinschaft setzt seit dem 7. Oktober vor allem auf eine Reform der PA. US-Präsident Joe Biden war der erste Staatschef, der vorschlug, die PA müsse eine Rolle im Gazastreifen spielen, sobald die israelische Invasion für beendet erklärt wird, und knüpfte diese Rolle an eine Reform der Behörde. Doch bis auf eine Kabinettsumbildung sind ernsthafte Reformbemühen bisher nicht zu erkennen, und für viele Palästinenser ist eine Wiederbelebung nur dann legitim, wenn es grundlegende Veränderungen in der Struktur der PA gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Beziehungen zum Westen aufgrund der wahrgenommenen Doppelstandards angespannt sind, so dass viele Palästinenser von Friedensdiplomatie desillusioniert sind. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung, auf die der Westen und Deutschland aufbauen können. Der ehemalige israelische Ministerpräsident Olmert und der ehemalige palästinensische Außenminister Al-Kidwa stellten kürzlich einen Plan für die Beilegung des Konflikts vor, der zwar an vielen früheren Vorschlägen anknüpft, aber auch neue, innovative Ansätze beinhaltet. Dazu zählen Landtauschpläne sowie ein neu gedachtes zukünftiges Regierungsmodell im Gazastreifen. Natürlich werden die Bemühungen um Wiederaufbau und Versöhnung langwierig und mühsam sein. Und auch die palästinensische Gesellschaft muss dringend zu Mäßigung und Pragmatismus finden. Doch neue Denkansätze sind heute wichtiger denn je, wenn dieser Konflikt jemals gelöst werden soll.

    Kristof Kleemann leitet das Jerusalemer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

  • Vor dem Hintergrund der palästinensisch-stämmigen Bevölkerungsmehrheit Jordaniens, eine historische Folge von Flucht, Vertreibung und Migration, dürfte die Feststellung einer in Jordanien besonders ausgeprägten Unterstützung für und Solidarität mit den Palästinensern kaum verwundern. Gleichzeitig war Jordanien nach Ägypten der zweite arabische Staat, der in den hoffnungsvollen Jahren des Friedensprozesses in den 1990er Jahren einen Friedensvertrag mit Israel abgeschlossen hat. In diesem komplexen Spannungsverhältnis sieht sich Jordanien durch den Konflikt und seine Auswirkungen vor besondere Herausforderungen gestellt.

    Nach dem brutalen Überfall der Hamas am 7. Oktober gingen die Reaktionen im Land spürbar auseinander. Während offizielle, staatliche Stellen den Überfall der Hamas, der Jordanien traditionell kritisch gegenübersteht, mit klaren Worten verurteilten und das Selbstverteidigungsrecht Israels grundsätzlich nicht in Frage stellten, sahen weite Teile der Bevölkerung den Terrorakt vielmehr als logische Reaktion auf die ihrer Meinung nach jahrelange und unrechtmäßige Unterdrückung des palästinensischen Volkes. In den Moscheen wurde entsprechend Stimmung gemacht, und die Regierung sah sich schon nach mehreren Tagen gezwungen, die Grenzübergänge zu Israel abzuriegeln, um Übergriffe und Gewalttaten aufgebrachter Jordanier an der gemeinsamen Grenze mit Israel zu verhindern.

    Mit den stark steigenden Opferzahlen in Gaza und den Bildern der leidenden Zivilbevölkerung verschärfte sich auch die Rhetorik der jordanischen Regierung gegenüber Israel. Das Misstrauen gegenüber der in Teilen rechtsextremen Netanjahu-Regierung und die Motive ihres Handelns wuchs kontinuierlich und gipfelte in Vorwürfen von „Vertreibungspolitik“ und „Genozid“.

    In den sozialen Medien erfolgten Aufrufe zum Boykott israelischer und amerikanischer Produkte sowie zur Einstellung der Handelsbeziehungen. Sogar die Forderung nach einer Aufkündigung des für Jordanien geopolitisch zentralen Friedensvertrages wurde zunehmend laut von Teilen der Protestbewegung gefordert. Demonstrationen vor der israelischen Botschaft arteten teilweise in Gewalt aus und mussten von den jordanischen Sicherheitskräften unterbunden werden. Auch die Vertretungen Deutschlands, der USA und Frankreichs wurden, wenngleich in geringerem Maße, zum Ziel von Demonstrationen und Boykottaufrufen.

    Jordanien steht vor multiplen Herausforderungen. Die Wut und Empörung im eigenen Land erfordert vom Königshaus und der Regierung den schwierigen Drahtseilakt, zum einen klare Kritik an der israelischen Regierung zu äußern, zum anderen aber zu vermeiden, dass der für Jordaniens Sicherheit und geopolitische Positionierung so zentrale Friedensvertrag mit Israel Schaden nimmt.

    Das Haschemitische Königreich und König Abdullah gehören zu den konsequentesten Verfechtern einer Zwei-Staaten-Lösung zur Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Zum einen geht diese Positionierung auf die genuine Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser zurück, zum anderen aber auch auf das für Jordanien existenzielle Bestreben, die eigene nationale Integrität zu schützen. Äußerungen einzelner rechtsextremer, nationalistischer israelischer Regierungsvertreter schürten Befürchtungen, dass die gegenwärtige israelische Regierung den Konflikt nutzen könnte, um die Palästinenser aus Gaza und der Westbank nach Jordanien zu vertreiben.  

    Mit Besorgnis blickt die jordanische Politik auch auf den seit Ausbruch des Konflikts in der eigenen Bevölkerung wachsenden Zuspruch für oppositionelle, islamistische Strömungen, der sich im Ergebnis der Parlamentswahlen am 10. September wiederspiegelt. Die traditionelle islamistische (Oppositions-) Partei konnten ihr Ergebnis der letzten Wahl verdreifachen.

    Die aufgezeigten Entwicklungen bedrohen die politische und ökonomische Stabilität Jordaniens. Der für das Königreich wichtige Tourismussektor verbuchte alleine zwischen März und Mai 2024 600.000 Touristen weniger als die ursprünglichen Erwartungen, mit entsprechenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

    Die steigende Arbeitslosigkeit und Armut ist inzwischen auch im Straßenbild sichtbar, u.a. durch die gestiegene Zahl der an Straßenkreuzungen bettelnden Menschen.

    Bedroht wird die Integrität Jordaniens auch durch die Destabilisierungspolitik des iranischen Regimes. Jordanien ist mit seiner prowestlichen Bindung dem Regime in Teheran ein Dorn im Auge. Auch die Qualität der bilateralen israelisch-jordanischen Beziehungen steht den Interessen des Iran diametral gegenüber. Über Syrien und den Irak erfolgt seit dem 7.Oktober neben dem seit Jahren etablierten Drogen- nun auch ein immer intensiver werdender Waffenschmuggel. Nahezu täglich gibt es Meldungen über Festnahmen und Beschlagnahmungen. Zunächst schienen die Waffen im Land zu verbleiben. Die jordanischen Sicherheitsbehörden blicken jedoch mit Sorge auf den zunehmenden Waffenschmuggel in die Westbank, um die dort existierenden Zellen der Hisbollah, Hamas, des sogenannten Islamischen Staates und anderer Terrororganisationen für Gewaltakte auszurüsten. 

    Jordanien kommt in diesem Konflikt eine wichtige (Vermittler-) Rolle zu. Mit den auch in dieser Krise weiterbestehenden, belastbaren Kontakten zu Israel und der gleichzeitigen engen Verbundenheit mit den Palästinensern wird das haschemitische Königreich von beiden Konfliktparteien respektiert, was für eine wie auch immer geartete Nachkriegsordnung wichtig werden dürfte.

    Mit Blick auf Deutschland haben die in der Vergangenheit ausgezeichneten bilateralen Beziehungen unter der vor allem anfangs in der breiten Bevölkerung als sehr einseitig   wahrgenommenen Positionierung stark gelitten. Der Vertrauensverlust gegenüber Deutschland ist auch bei den Mittlerorganisationen der deutschen Entwicklungshilfe spürbar, in besonderem Maße bei den politischen Stiftungen, die sich mit Vorwürfen einer „deutschen Doppelmoral“ konfrontiert sehen.

    Jörg Dehnert ist Regionalbüroleiter der MENA-Region.

  • Der Libanon, dessen Bevölkerung eine große konfessionelle und kulturelle Vielfalt aufweist, befindet sich bereits seit dem Jahr 2019 – und damit mehrere Jahre vor dem 7. Oktober – in einer der schwersten Wirtschafts- und Staatskrisen seiner Geschichte.

    Seit ihrer Entstehung ringt die libanesische Republik mit der Frage, wie die Macht in dem kleinen Land zwischen den sich traditionell entlang ihrer Konfessionszugehörigkeit identifizierenden Bevölkerungsgruppen (v.a. den Christen unterschiedlicher Konfession, den Schiiten, Sunniten und Drusen) geteilt werden kann. So entstand das für den Libanon fast schon identitätsstiftende politische Proporzsystem, das alle Parlamentssitze und die wichtigsten Ämter im Land entlang konfessioneller Zugehörigkeit verteilt, und somit – wie Befürworter argumentieren – sicherstellt, dass keine Bevölkerungsgruppe von der Macht ausgeschlossen wird, aber gleichzeitig – wie Kritiker bemängeln – die Entstehung handlungsfähiger Mehrheiten erschwert.

    Die Schwäche des libanesischen Staates wusste kein Akteur geschickter auszunutzen als die schiitische Hisbollah, zu deutsch „Partei Gottes“. In den 1980er Jahren während der israelischen Besatzung des Südlibanons gegründet, wurde sie mithilfe iranischer und später auch syrischer Unterstützung zu einem zentralen Machtfaktor im Libanon, der nicht davor zurückschreckte, mit Gewalt und Arroganz die eigene Agenda und Partikularinteressen durchzusetzen.

    Und so dürfte es im Libanon auch niemanden gewundert haben, als die Hisbollah nach dem 7. Oktober im Alleingang in den Konflikt zwischen Hamas und Israel eingriff. Nicht die libanesische Regierung, das Parlament oder gar die Bevölkerung, sondern die Hisbollah und ihre Partner trafen die schicksalhafte Entscheidung über den Eintritt in den Konflikt mit Israel.

    Den Überfall der Hamas am 7. Oktober wertete die Hisbollah als einen legitimen Akt des Widerstandes gegen die Unterdrückung durch den verhassten Judenstaat. Als Ausdruck ihrer Solidarität und Unterstützung für die Hamas, aber auch zur Wahrung der eigenen Rest-Legitimität als „Widerstandsorganisation“ begann die Hisbollah am 8. Oktober den so genannten „kalkulierten“ Beschuss Nordisraels. Ihr Raketenarsenal soll zu dem Zeitpunkt Schätzungen zufolge ca. 140.000 Raketen unterschiedlichster Bauart umfasst haben, von denen bis zum Jahrestag am 07.10.2024 nach internationalen Schätzungen ca. 9.000 Raketen auf Israel, v.a. den Norden des Landes, abgefeuert wurden. Mit ihrem Handeln verstieß die Hisbollah u.a. gegen die UN Resolution 1701, die einen von der UN überwachten demilitarisierten ca. 40km breiten Korridor vorsah. In Folge des Konflikts wurden auf israelischer Seite mehr als 60.000 Zivilisten aus den betroffenen Landesteilen evakuiert. In Folge der israelischen, zu Beginn ebenfalls limitierten Vergeltungsschläge, folgte auch auf libanesischer Seite eine Evakuierungswelle. Über Monate konnte der Eindruck entstehen, dass es beiden Seiten eher um Gesichtswahrung ging, aber beide Seiten vor einem umfassenden Krieg zurückschreckten.

    Einen ersten Rückschlag dieser von beiden Seiten geführten „begrenzten Kriegsführung“ gab es am 14. April. Als Reaktion auf die Tötung des Hamas-Führers in Teheran reagierte das bloßgestellte iranische Regime mit einem massiven, wenn auch rechtzeitig angekündigten Angriff auf Israel und forderte seine „Proxis“ im Libanon, Syrien und Jemen auf, ihrerseits die Aktion zu unterstützen. Hisbollah folgte dieser Anweisung und beteiligte sich mit intensivem Einsatz aus ihren Raketenarsenal. Nur mit Hilfe der USA, Großbritanniens und Jordaniens konnten 95% der Geschosse abgefangen werden, so dass größere Schäden verhindert wurden.

    Unter großem innenpolitischen Druck, die Rückkehr der evakuierten Zivilisten in den Norden Israels sicherzustellen, wechselte Israel im September seine Strategie und deklarierte die Rückkehr der israelischen Binnenflüchtlinge zum Kriegsziel. Einer spektakulären, wenn auch völkerrechtlich umstrittenen Geheimdienst-Operation, bei der Mitte September zeitgleich tausende Hisbollah-Kader, aber auch Zivilisten, durch ferngezündete Pagers verletzt oder getötet wurden, war der Auftakt zu einer Serie von dramatischen Schlägen gegen die Hisbollah, deren Höhepunkt die Tötung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah darstellte. Anfang Oktober begann Israel eine Bodenoffensive im Südlibanon, die für den Libanon einer dramatischen Eskalation des Krieges gleichkommt.

    Der Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel hat innerhalb einer Woche mehr Todesopfer auf libanesischer Seite gefordert als der einmonatige Krieg im Jahr 2006. Mehr als eine Million Binnenvertriebene aus dem Süden und den südlichen Vororten von Beirut sind im Libanon auf der Flucht. Den zumeist schiitischen Flüchtlingen schlägt sowohl Hilfsbereitschaft als auch Ablehnung und Angst entgegen, z.T. motiviert durch die Sorge, dass die Unterbringung der Geflüchteten Luftschläge der israelischen Armee auf bisher unversehrte Landesteile zur Folge haben könnte. Um die Bevölkerung unterzubringen, verschafft sich die Hisbollah Berichten zufolge sogar mit bewaffneter Gewalt in Beirut Zugriff auf freistehende Büroräumlichkeiten oder Etagen regulärer, leerstehender Wohnhäuser.

    Ob die militärische Schwächung der Hisbollah die politische Blockade im Libanon aufbrechen und ein neues Kapitel aufschlagen kann, wird von politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften ambivalent beurteilt.

    Einerseits erhoffen sich viele die historische Chance, nach Kriegsende als Libanesen auf Augenhöhe – ohne die Obstruktion und die Drohkulisse einer hochgerüsteten Hisbollah – und im Einklang mit den in der Verfassung verankerten Abläufen einen neuen Präsidenten zu wählen und eine parlamentarisch legitimierte, handlungsfähige Regierung zu berufen. Die damit verbundene Rückgewinnung politischer Stabilität und Handlungsfähigkeit ist für viele Libanesen ein Hoffnungsschimmer.

    Für diese Vorstellung haben die Libanesen jedoch ein zu langes politisches Gedächtnis. Und fügen hinzu, dass nur ein politischer Prozess, bei dem allen Libanesen, vor allem auch der schiitischen Bevölkerungsgruppe, aus denen die Hisbollah ihre Anhänger rekrutiert, eine Brücke in einen besseren Libanon gebaut wird, einem Land, in dem Teilhabe, Politik und Macht kein Null-Summen-Spiel ist.

    Jörg Dehnert ist Regionalbüroleiter der MENA-Region.

  • Marokko ist unter den Staaten der MENA-Region am weitesten von den Kriegsschauplätzen des Nahen Ostens entfernt und stellt auch in anderer Hinsicht eine Besonderheit dar: Das nordafrikanische Königreich ist durch Jahrhunderte jüdischer Geschichte geprägt und darauf ausdrücklich stolz. Die jüdische Identität findet Erwähnung in der Verfassung und Wertschätzung in zahlreichen Museen und Gedenkstätten. Ein marokkanischer Jude zählt sogar zu den offiziellen Beratern von König Mohammed VI. Die Marokkaner wissen also zwischen den Juden und dem Staat Israel zu unterscheiden, vor allem in Kriegszeiten. Dann sind die Menschen trotz der geografischen Entfernung ganz nah dran am Schicksal ihrer palästinensischen Schwestern und Brüder.

    Zehntausende Menschen protestierten im vergangenen Jahr jede Woche in den Innenstädten der großen Städte und sorgten für eindrückliche Bilder. Zahllose Palästinenserflaggen säumten die großen Boulevards, während israelische Flaggen vereinzelt vor dem Parlament verbrannt wurden. Die Demonstrationen sind inzwischen zwar kleiner geworden, der Sturm aus Zorn und Entrüstung über die Opfer und Verheerungen, die das israelische Militär im Gazastreifen und nun auch im Libanon verursacht hat, wütet in den sozialen Medien jedoch ungebrochen weiter.

    Die israelischen Opfer werden in Marokko kaum gesehen. In einer Umfrage gaben zu Beginn des Jahres 75% der Befragten an, dass das von der Hamas am 7. Oktober 2023 verübte Massaker ein „legitimer Akt des Widerstands“ gewesen sei. Lediglich 4% stuften den Terroranschlag als „illegitim“ ein.[1] Für die meisten ist der 7. Oktober keine Zäsur, sondern nur „die Fortsetzung eines gerechten Kampfes gegen eine unbarmherzige Besatzungsmacht“.

    Die Wut der Bevölkerung auf den Straßen und in den sozialen Medien richtet sich aber nicht nur gegen Israel und die vermeintliche Komplizenschaft seiner westlichen Alliierten, sondern auch gegen die eigene Regierung. Diese hatte 2020 im Rahmen der Abraham Accords beschlossen, Israel anzuerkennen und (wieder)[2] diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Viele Menschen in Marokko begreifen diesen Schritt als einen Verrat an der Solidarität mit den Palästinensern. Der Abbruch der „Normalisierung“ der Beziehungen gehört daher zu ihren wichtigsten Forderungen.

    Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass König Mohammed VI. und die aktuelle Regierung dieser Forderung nachkommen. Marokko wurde für seinen Beitritt zu den Abraham Accords durch die USA mit der Anerkennung seiner Ansprüche auf die Westsahara belohnt. Israel folgte diesem Schritt wenig später. Die Anerkennung der „marokkanischen Sahara“ ist seit Jahrzenten das wichtigste Ziel der marokkanischen Außenpolitik. Darüber hinaus erweist sich Israel für Marokko als wertvoller Partner in der Rüstungspolitik. Marokko bezieht aus Israel hochtechnologische Rüstungsgüter wie Satelliten oder Drohnen und erlaubt israelischen Rüstungsunternehmen sogar, sich auf seinem Gebiet niederzulassen.

    Die Solidarität Marokkos gehört traditionell den Palästinensern, doch seine strategischen Interessen kann das Königreich viel besser im Schulterschluss mit Israel verfolgen. Spätestens seit dem 7. Oktober zwingt diese Situation die marokkanische Regierung in einen unbequemen Spagat. In offiziellen Verlautbarungen versichert Marokko regelmäßig seine uneingeschränkte Solidarität mit dem Volk der Palästinenser, fordert Waffenstillstände und erklärt seine Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung. Gewalt wird verurteilt, doch es werden selten Schuldige benannt. Besonders heikel ist dieser Spagat für den Monarchen selbst, der den permanenten Vorsitz des Al-Quds-Komitees innehat, einer Instanz der muslimisch-arabischen Staaten, deren Aufgabe unter anderem der Schutz der heiligen Stätten in Jerusalem ist.

    In der Praxis sieht der marokkanische Spagat wie folgt aus: Beide Länder haben ihre Diplomaten vorübergehend abgezogen, die direkten Flüge zwischen Casablanca und Tel Aviv sind eingestellt, und die Fotos von israelisch-marokkanischen Geschäftsdelegationen auf internationalen Messen sind von den Titelseiten verschwunden. Gleichzeitig hat das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten im ersten Halbjahr 2024 einen neuen Rekordwert erreicht. Die Normalisierung geht also weiter, sie steht nur weniger sichtbar im Vordergrund. Das Volk scheint sich daran gewöhnt zu haben und lässt Dampf nach neuerlichen Eskalationen vor allem im Internet ab.

    Für die Beziehungen zu Deutschland ergibt sich daraus ein gemischtes Bild. Für viele Marokkaner macht sich Deutschland durch seine Waffenlieferungen an Israel der Mittäterschaft an einem „Völkermord“ schuldig. Deutschland, so ein häufig zu vernehmender Vorwurf, lege bei Völker- und Menschenrechtsfragen doppelte Standards an. Auf Ebene der Gesellschaften droht hier eine – durchaus gegenseitige – Entfremdung. Auf Regierungsebene dagegen ist Marokko als Partner noch interessanter geworden, da es sich als einer der wenigen Staaten in der Region zum Existenzrecht Israels bekennt.

     

    [1] Die Umfrageergebnisse wurden im Januar 2024 erhoben, also unter dem Eindruck des israelischen Einmarsches im Gaza-Streifen
    [2] Marokko und Israel hatten bis zur zweiten Intifada bereits kurz diplomatische Beziehungen miteinander aufgenommen

    Sebastian Vagt leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko.

  • Tunesien befindet sich seit der Wahl von Präsident Kais Saied im Jahre 2019 auf der Suche nach einer politischen Neuorientierung. Innenpolitisch hat die Schaffung eines populistisch-autoritären Präsidialsystems zu einer massiven Unterdrückung der politischen Öffentlichkeit geführt. Außenpolitisch zeigt sich dieser Wandel in einer Abwendung von den traditionellen Partnern in Europa und den Werten von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie. Von Ideen des Pan-Arabismus inspiriert, sucht man die Nähe von Partnern in der Region und baut die Beziehungen zu Russland und China aus. Die prekäre wirtschaftliche Lage des Landes zwingt dabei immer wieder zu ad-hoc Maßnahmen, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit und den Staatsbankrott abzuwenden. In diesem Kontext entfaltet der Konflikt in der Folge des 7. Oktober eine beschleunigende Wirkung und verstärkt die Abwendung von den Partnerschaften, die in der Folge des arabischen Frühlings die Demokratisierung des Landes unterstützt und begleitet haben, darunter auch Deutschland.

    Das Land Tunesien fühlt sich seit jeher eng mit dem Schicksal der Palästinenser verbunden. Ursprünglich auch aus Solidarität im eigenen Streben nach Unabhängigkeit inspiriert, haben die Kriege und Konflikte über die Jahrzehnte Generationen politisiert. Dies hat zu einer eigenen Form der „Staatsräson“ in Bezug auf die Palästinenser und den Staat Israel geführt. Israel wird von Tunesien als Staat nicht anerkannt und in offiziellen Statements zumeist als „zionistische Entität“ bezeichnet. So erklärt sich auch, dass das Land von 1982 -1991 Yasser Arafat und der Führungsriege der PLO Asyl gewährt hat, nachdem diese ihren Sitz in Beirut im Zuge des israelischen Eingreifens in den libanesischen Bürgerkrieg aufgab. Insbesondere der israelische Angriff auf das Hauptquartier der PLO in Tunis 1985 mit 70 Toten hat bis heute Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Vor diesen Hintergründen werden der 7. Oktober und seine Folgen interpretiert und eingeordnet.

    Für den zunehmend autoritär regierenden Präsidenten bot der 7. Oktober eine willkommene Gelegenheit, im Kontext einer bereits massiv eingeschränkten politischen Öffentlichkeit die breite gesellschaftliche Reaktion hinter sich zu vereinen. Dabei zeigten sich einmal mehr die sozialen Medien als wirkmächtiges Instrument, um die Eigendynamik bestehender Polarisierungen durch gezielte (Desinformations-) Kampagnen zu verstärken. Es ist in deren Folge heute fast unmöglich geworden, differenzierte Sichtweisen in einer öffentlichen Debatte einzubringen. Auch viele deutsche Institutionen waren Ziel dieser teilweise bereits vorbestehenden Kampagnen, die die öffentliche Meinung in weiten Teilen beeinflusste und das Projekt der Abwendung vom „Westen“ und Europa erfolgreich weiter vortrieben.

    Andererseits zeigte sich an verschiedenen Stellen auch, dass trotz allem andere Aspekte des nationalen Interesses weiterhin Beachtung finden. Anfang November wurde auf Initiative von präsidententreuen Abgeordneten ein Entwurf eines „Anti-Normalisierungsgesetzes“, dass jegliche Interaktion mit israelischen Staatsbürgern als Hochverrat mit drakonischen Strafen belegt hätte, eingebracht. Obwohl es mit großer Wahrscheinlichkeit einstimmig vom Parlament verabschiedet worden wäre, verschwand es quasi über Nacht von der Agenda, was allgemein auf eine Intervention des Präsidialpalastes zurückgeführt wird.

    Im Hinblick auf die drängenden wirtschaftlichen Herausforderungen hoher Inflation, prekärer Staatsfinanzen, eines unwirtschaftlichen Staatssektors und eines drohenden Zahlungsausfalls bot der Konflikt eine Zeit lang eine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit temporär auf ein anderes Feld zu lenken. Die Entwicklungen boten zudem einen Anlass, die Annäherung an Russland, auf das man seit dem Krieg gegen die Ukraine bereits für Getreide und Erdöllieferungen verstärkt angewiesen war, und die bestehende Kooperation mit China auf verschiedenen Feldern weiter voranzubringen. Besuche des russischen Außenministers Lawrow und des chinesischen Außenministers Wang Yi haben seitdem der Suche nach neuen internationalen Partnern symbolisches Gewicht verliehen, ebenso wie ein Staatsbesuch von Präsident Kais Saied in Bejing und seine Anerkennung chinesischer Ansprüche bezüglich Taiwans.

    Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und seine Folgen haben so bestehende Trends in der innen- und außenpolitischen Orientierung Tunesiens beschleunigt und verstärkt. Die Phase des demokratischen Aufbruchs im Zuge des arabischen Frühlings wurde beendet, ebenso wie die damit einhergehende Abwendung von traditionellen Partnern in Europa und den USA. Gleichzeitig bestehen jedoch auf der Basis geographischer Nähe und enger wirtschaftlicher Verflechtungen mit Europa weiterhin wichtige Interessen, die dem populistischen Bruch und der demonstrativen Suche nach einem Anschluss an die „autoritäre Internationale“ in der Substanz Grenzen setzen. Dass auch die gegenwärtige Führung des Landes sich dieser bewusst ist, hat sich an kritischen Momenten auch im vergangenen Jahr immer wieder gezeigt. Dies bietet auch Deutschland und Europa Möglichkeiten, im Hinblick auf wichtige Herausforderungen gemeinsame Interessen nicht aus dem Auge zu verlieren.

    Alexander Knipperts ist Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Tunesien.

  • Für die ölreichen und wertkonservativen Golfmonarchien Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate ist politische und wirtschaftliche Stabilität seit Jahrzehnten das prioritäre, interessengeleitete Ziel ihrer Außenpolitik. Sowohl mit Blick auf die eigene gesellschaftliche Transformation als auch für die modernen Volkswirtschaften am Golf mit ihrer globalen Bedeutung für die Verkehrs-, Logistik- und Dienstleistungssektoren ist Stabilität und Sicherheit eine Grundvoraussetzung.

    Die Gegnerschaft der beiden Status-Quo-Mächte gegenüber revolutionärer Bewegungen, die bereits während des sog. Arabischen Frühlings offensichtlich wurde, ist auch mit Blick auf die Radikalität von Hamas und Hisbollah offizielle Politik.

    Als „Hüter“ der beiden im Islam heiligen Stätten Mekka und Medina verfügt das reiche Saudi-Arabien nicht nur innerhalb der arabischen Welt, sondern darüber hinaus im islamischen Kulturkreis über großen Einfluss. Diesen nutzte es z.B. für die Arabische Friedensinitiative von 2002 (englisch: Arab Peace Initiative), die auch als Saudische Initiative bekannt wurde. Sie galt einst als eine bedeutende Initiative zum Frieden im Nahen Osten.

    Seit mehr als einem halben Jahrhundert gelingt es dem Königsreich Saudi-Arabien, enge und belastbare Beziehungen zu den USA aufrecht zu halten. Im Rahmen eines Sicherheitsabkommen mit den USA schien Saudi-Arabien auch bereit, sich für eine bilaterale Normalisierung der Beziehungen zu Israel zu öffnen.

    Dieser Prozess steckt nach dem 7. Oktober fest. Zwar sprechen die Herrscher in Riad Israel nicht das Recht zur Selbstverteidigung ab und haben auch keine Sympathien für die Hamas. Die großen Verluste unter der palästinensischen Zivilbevölkerung erzeugten jedoch starke Kritik am Vorgehen der Netanjahu-Regierung und legten den Annäherungsprozess zunächst auf Eis.

    Noch komplizierter wird die saudische Politik und Position, wenn man die Mitgliedschaft Riads in der BRICS-Staatengemeinschaft betrachtet. Zwar steht eine formale Bestätigung der Mitgliedschaft noch aus, doch nimmt Saudi-Arabien bereits an BRICS-Sitzungen teil – angesichts der engen Beziehungen zu den USA ein geostrategischer Spagat, der durch die Mitgliedschaft des Iran bei BRICS besondere Brisanz hat. In einem ähnlichen Dilemma befinden sich auch die Vereinigten Arabischen Emirate. Auch sie pflegen gute Beziehungen zum Westen, sind aber gleichzeitig Mitglied bei BRICS.

    Dem Emirat Katar, von dessen Außenpolitik oft behauptet wird, sie diene in erster Linie der Expansion des eigenen Einflusses, kommt mit Blick auf den Nahost-Konflikt die spezielle Rolle zu, für viele Jahre die politische Führung der Hamas im Exil aufgenommen zu haben. Durch die engen Verbindungen zur Hamas ist Katar im Konflikt politisch involviert und nutzt seinen Einfluss auch als Verhandlungs- bzw. Vermittlungsakteur.

    Ägypten, das bis vor wenigen Jahrzehnten noch als arabische Führungsmacht galt, aber inzwischen zu Gunsten der Golfmonarchien an Einfluss verloren hat, ist in diesem Konflikt ein wichtiger Verhandlungspartner. Zusammen mit Katar und den USA bemüht sich das Land am Nil, das als erstes arabisches Land mit Israel einen Friedensvertrag abschloss, um einen Waffenstillstand und eine Deeskalation des Konflikts. Ägypten, welches die Muslimbrüderschaft im eigenen Land verboten hat und die Hamas sehr kritisch sieht, hat schon Millionen von Flüchtlingen aus dem Sudan, aber auch aus Syrien, Jemen und Palästina aufgenommen. Das Land weigert sich aber, die Grenze zu Gaza zu öffnen und der unter menschenunwürdigen Verhältnissen lebenden Zivilbevölkerung Zuflucht zu gewähren. In offiziellen Stellungsnahmen wird die Verhinderung einer erneuten Vertreibung der Palästinenser aus ihren Gebieten als Begründung aufgeführt, in vertraulichen Gesprächen aber auch die Sorge vor den Auswirkungen auf Ägypten, sollten Anhänger der Hamas, Hisbollah und anderer radikaler Gruppen in Ägypten Zuflucht suchen. Ägypten setzt sich traditionell vehement für eine Zweistaatenlösung ein.

    Schwer durchschaubar bleibt die Politik und Position des eigentlichen Drahtziehers der sog. „Achse des Widerstands“, der Islamischen Republik Iran. Die Strategie Teherans basierte bisher wesentlich darauf, durch seine nichtstaatlichen Proxis in Gaza, im Libanon, im Irak und im Jemen die Entwicklungen zu beeinflussen und gleichzeitig eine Abschreckungsstrategie gegen Israel zu etablieren, die Iran in potentiellen Konflikten als Ziel militärischer Schläge außen vorlässt. Mit dem Angriff Israels auf eine nach iranischen Angaben zur Botschaft gehörende Liegenschaft in Damaskus erhielt diese Strategie erste Risse.

    Der öffentlich groß angekündigte Vergeltungsschlag, ein massiver Drohnenangriff auf Israel über syrisches und jordanisches Territorium fiel allerdings sehr zurückhaltend aus und sollte wohl eher die Reaktion anderer Akteure testen. Mit der nur wenige Monate später erfolgten Liquidierung des Hamas-Führers in Teheran nach der Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten wurde Teheran erneut herausgefordert. Die gezielte Ausschaltung der Hisbollah Führungsriege im Libanon, die am 27. September in der Tötung des Führers Nasrallah seinen bisherigen Höhepunkt fand, stellte das Regime in Teheran vor eine neue und viel wichtigere und riskantere Herausforderung. Reagiert der Iran nicht, so wird der Eindruck erweckt, man ließe den wichtigsten Partner innerhalb der Achse, die Hisbollah, im Stich, reagiert der Iran auf die Ausschaltung Nasrallahs, so ergibt sich die Gefahr einer Eskalation und auch die Einbeziehung iranischen Territoriums in die Kriegshandlungen.

    Das iranische Regime entschied sich offenbar für einen „Mittelweg“. Am Abend des 1. Oktober kam es, nachdem Israel von den Vereinigten Staaten über den unmittelbar bevorstehenden iranischen Angriff gewarnt wurde, zu einem massiven Drohnen- und Raketenangriff auf Israel. Damit haben die Machthaber im Iran quasi ihr Vorgehen aus dem April wiederholt, um abermals nach innen und außen ihr Gesicht zu wahren. Dabei vermied der Iran es, dem verhassten Gegner allzu großen Schaden zuzufügen und damit direkt einen umfassenden Krieg auszulösen.

    Für den Nahen Osten tickt die Uhr. Es liegt nun an allen in der Region über Einfluss verfügenden Akteuren und der internationalen Gemeinschaft als Ganzes, das Risiko einer weiteren Eskalation zu verringern und alle Möglichkeiten einer nachhaltigen Konfliktlösung zu nutzen.

    Jörg Dehnert ist Regionalbüroleiter der MENA-Region.

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