Marokko
Ein kleiner Schritt für die Frauenrechte, ein großer Schritt für Marokko
Marokko reformiert sein Familienrecht, die sogenannte Moudawana. In diesem 400 Artikel umfassenden Gesetzeswerk ist Grundlegendes zur zivilrechtlichen Stellung der Frau in der Gesellschaft geregelt. Es betrifft aber bei weitem nicht nur Frauen, sondern auch Kinder und deren Zugang zu staatsbürgerlichen Grundrechten.
In seiner aktuellen Form entspricht das Familienrecht nicht den Anforderungen der progressiven Verfassung, die das Land sich 2011 gegeben hat. Es erlaubt, wenn auch unter Bedingungen, Kinderehen und Polygamie, es stigmatisiert und diskriminiert uneheliche Kinder, blockiert die Heirat von Frauen mit Männern anderer Religionen und benachteiligt verwitwete, geschiedene oder alleinerziehende Frauen und deren Kinder, die deshalb besonders oft in wirtschaftlich prekäre Lage geraten.
Ein fast modernes Land
Marokko gilt im regionalen Vergleich als eines der Länder mit den fortschrittlichsten Rechtssystemen für Frauen. Sie genießen im politischen und wirtschaftlichen Leben zumindest rechtlich einen gleichberechtigten Zugang zu allen Funktionen. In Führungspositionen herrscht zwar alles andere als Parität, aber es gibt immerhin zahlreiche weibliche CEOs, Ministerinnen und Behördenleiterinnen. Ein Viertel des Parlaments ist weiblich und gerade erst hat eine Frau von einer anderen Frau das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Rabat übernommen. Volljährige Frauen haben keinen Vormund, genießen Reisefreiheit, Freiheit der Berufswahl und können in alle politischen Ämter gewählt werden. Diese vermeintlich trivialen Rechte sind keine Selbstverständlichkeiten in der arabischsprachigen Welt.
Im Zivil- und Strafrecht bestehen allerdings zahlreiche Diskriminierungen und Benachteiligungen von Frauen fort, die nicht nur im Rechtssystem, sondern auch in der Gesellschaft tief verankert sind. Dies lässt sich exemplarisch an zwei der derzeit meist diskutierten Passagen des Familienrechts zeigen – denen zu Kinderehen und zum Erbrecht.
Die Heirat von Minderjährigen ist seit 2004 nur noch in Ausnahmefällen und mit richterlicher Genehmigung erlaubt. Mittlerweile ist die Ausnahme jedoch zur Regel geworden. Die zuständigen Richter billigen die überwiegende Mehrheit der entsprechenden Anträge – eine Praxis die zur Schließung von mehr als 20.000 Kinderehen pro Jahr führt. Dies betrifft ausnahmslos Mädchen, männliche Jugendliche grundsätzlich nicht verheiratet werden dürfen. Menschenrechtsorganisationen fordern deshalb seit langem, die Eheschließung von unter 18-jährigen grundsätzlich zu verbieten. Die einflussreiche islamistische Partei für Justiz und Gerechtigkeit (PJD) hält dem entgegen, die Heirat von Minderjährigen sei Teil des „Rechts auf Familiengründung“.
Das heißeste Eisen der Reformdebatte ist aber das Erbrecht. Im Islam erhalten die Frauen die Hälfte dessen, was die erbberechtigten Männer erhalten. Erben also ein Sohn und eine Tochter von ihren Eltern, so bekommt der Sohn 2/3 und die Tochter 1/3 der Erbmasse. Gibt es nur weibliche Erben, so müssen Witwen oder Töchter die Erbmasse mit entfernten, männlichen Verwandten des verstorbenen Ehemannes oder Vaters teilen. Einige Frauenrechtsorganisationen prangern dies schon lange als ungerecht und überkommen an. Im Gegensatz zu anderen Regeln des marokkanischen Familienrechts finden sich die entsprechenden Bestimmungen jedoch wortwörtlich im Koran. Selbst progressive Menschenrechtsorganisationen scheuen deshalb häufig davor zurück, die Gleichstellung der Frau im Erbrecht zu fordern. 2022 gaben 44% der Befragten in einer repräsentativen Umfrage an, kategorisch gegen jegliche Änderung des Erbrechts zu sein. Nur 36% sagten, sie können sich Änderungen vorstellen. 20% enthielten sich. Das Bekenntnis zur islamischen Identität schlägt im Zweifel also den Wunsch nach mehr Gerechtigkeit.
Die nun laufende Überarbeitung der Moudawana erscheint vor diesem Hintergrund als ein folgerichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Modernisierung des Landes, oder, wie Samira Muheya, Präsidentin des Frauenrechtsverbandes FLDF (Fédération des ligues des droits des femmes) es ausdrückt, eine Gelegenheit, "die rechtliche Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen im Gesetzestext oder bei seiner Anwendung" zu korrigieren.
Reform von oben, aber partizipativ
Der Anstoß zur Reform kam bemerkenswerterweise weder aus der organisierten Zivilgesellschaft noch – in Form von Protesten – von der Straße, sondern von König Mohamed VI. persönlich. Dieser hatte in seiner Eigenschaft als politisches und geistliches Staatsoberhaupt bereits 2022 in einer viel beachteten Rede gefordert, dass das Prinzip der Gleichstellung endlich verwirklicht werden müsse und dabei dezidiert auf die Mängel des geltenden Familienrechts verwiesen. Passiert war daraufhin allerdings erstmal nichts, weil die Parteien der regierenden Koalition sich zu uneins waren.
Also wiederholte der Monarch im vergangenen Herbst seine Forderung und setzte dem Premierminister eine Frist. Ende vergangener Woche musste eine Kommission aus Vertretern verschiedener Ministerien und religiöser Instanzen einen Reformvorschlag für die Moudawana vorlegen. Dieser wird nun vom König geprüft. Die Öffentlichkeit wird von diesem Vorschlag jedoch erst erfahren, wenn der Premierminister diesen, in gegebenenfalls modifizierter Form, dem Parlament zur Verabschiedung vorlegt. Wann das passieren wird, ist derzeit noch unklar. Und so setzt das Land die seit sechs Monaten andauernden Debatten über die Feststellung von Vaterschaften, die Zuweisung von Sorgerecht und die Erbansprüche von Töchtern einfach fort, immer unter der Annahme, dass der König weiter zuhört und sich von der Entwicklung des gesellschaftlichen Stimmungsbildes noch beeinflussen lässt.
Der Weg zur neuen Moudawana sollte, so der Wunsch des Königs, ausdrücklich partizipativ sein. So haben sich während der vergangenen Monate hunderte zivilgesellschaftliche Organisationen mit ihren Petitionen und Empfehlungen an die Kommission gewandt, einige von ihnen, darunter auch Partnerorganisationen der Stiftung für die Freiheit, konnten ihre Positionen im Rahmen von Konsultationen persönlich vorbringen. Auf der einen Seite des Diskurses stehen konservative und religiöse Kräfte, die die islamische Identität des Landes in Gefahr sehen. Auf der anderen Seite fordern fortschrittliche und liberale Organisationen, dass das geltende Recht nicht länger hinter den gesellschaftlichen Realitäten zurückbleiben dürfe.
Demokratie à la marocaine
König Mohammed VI., allgemeinhin als Autorität im Land anerkannt, ist in seiner wegweisenden Rede im Jahr 2022 vage geblieben und widersprach sich in entscheidenden Passagen sogar selbst. So erinnerte er einerseits an das in der Verfassung verankerte Prinzip der Parität, mahnte aber andererseits, er könne „nicht erlauben, was Gott verboten habe“ – mutmaßlich ein Verweis auf die im Koran verankerte Benachteiligung von Frauen im Erbrecht.
Was will der König also? Eine grundlegende Reform oder nur ein paar kosmetische Anpassungen? Viele Marokkanerinnen und Marokkaner kommen diesbezüglich zu unterschiedlichen Interpretationen – oder nutzen die Gelegenheit gleich, um in die Worte des Königs einfach ihre eigene Meinung hineinzudeuten. Genau das könnte sogar im Sinne des Monarchen sein, der ja versuchen muss, eine für die Mehrheit seines Volkes akzeptable Lösung zu finden. Dies ist nicht weniger als ein Drahtseilakt für ein Land, in dem Frauen einerseits schon jetzt die Mehrheit der Studenten an den Universitäten stellen, außereheliche Beziehungen führen und abtreiben lassen (beides sind eigentlich Straftaten) und andererseits im Kindesalter verheiratet werden, nicht zur Schule gehen dürfen und ein Leben lang die Anweisungen ihres Vaters, Bruders oder Ehemanns befolgen.
Ausgang offen
Es ist schwer vorherzusehen, welchen Lösungsvorschlag König Mohammed VI. präsentieren und welche Reaktionen er damit im Volk ernten wird. Kreißt der Berg und gebiert eine Maus, wie es manche Menschenrechtsaktivisten befürchten? Oder wird es eine radikale Modernisierung des Familienrechts geben, die unweigerlich auch eine Signalwirkung für andere Länder der Region hätte?
Was auch immer das Ergebnis sein wird, der Reformprozess und die damit einhergehende gesellschaftliche Debatte in Marokko sind bemerkenswert und zeugen vom aufrichtigen Willen des Landes, seine außerordentlich erfolgreiche Entwicklung der vergangenen Jahre nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich weiter voranzutreiben.
Sebastian Vagt ist Leiter des Stiftungsbüros in Rabat, Marokko.