Migration
Der Notstand
Liberale Ökonomen plädieren mit Nachdruck für mehr Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften. So auch der Verfasser dieser Zeilen. Wir werden in den nächsten zwei Jahrzehnten darum kämpfen müssen, dass motivierte Menschen von außerhalb Europas zuwandern - und die aus dem Arbeitsleben ausscheidende Generation der Babyboomer ersetzen. Das wird schwer genug, weil auch unsere Nachbarländer vor dem gleichen Problem stehen wie wir. Die Frage wird sein: Wer ist als Ziel der Zuwanderung der attraktivste Standort?
Bei diesem Wettbewerb ist es ungeheuer wichtig, die Bevölkerung mitzunehmen. Sie muss politisch überzeugt werden, dass die Zuwanderung zu ihrem Vorteil ist - durch zunehmende Innovations- und Wirtschaftskraft der Nation sowie ein breiteres Angebot an Waren und Dienstleistungen bei kultureller Integration der Zugewanderten. Die Bundesregierung hat dafür die ersten Weichen gestellt.
Nun aber droht das schiere Ausmaß der irregulären Zuwanderung über das Asylrecht den Goodwill der Menschen wegzuschwemmen. Überfüllte Flüchtlingsunterkünfte, ächzende Kommunen, Kontrollverlust an den deutschen und europäischen Außengrenzen, spektakuläre Fälle der Kriminalität, erschreckende Bilder von Flüchtlingsbooten - all dies führt zum Anschwellen des Unmuts und in Umfragen zu Höhenflügen der Rechtspopulisten. Es droht eine Wiederholung des Desasters von 2015 - mit allen psychologischen Wirkungen, die sich gegen eine offene Gesellschaft mit geordneter Zuwanderung drehen.
Deshalb muss gehandelt werden. Der Staat muss die Kontrolle zurückgewinnen - und zwar entschlossen und zügig. Er muss das Vertrauen in seine Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Das ist seine zentrale Aufgabe. Mit (rechter?) Ideologie hat dies nichts zu tun, wohl aber mit einem angemessenen liberalen Staatsverständnis. Im Notstand müssen die Bürgerinnen und Bürger darauf vertrauen können, dass der Staat handelt. Er ist zuständig.
In dieser Woche hat das Präsidium der FDP einen entsprechenden Forderungskatalog beschlossen und der Öffentlichkeit vorgelegt. Er enthält wichtige Punkte, um den Notstand zu beenden: Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, vor allem um die Maghreb-Länder Nordafrikas; Beschleunigung der Abschiebungsverfahren und konsequente Offensive der Rückführung; längeres Ausreisegewahrsam und gezielte Anreize zur Ausreise. Dazu kommt die Forderung nach Sach- statt Geldleistungen, um dem verbreiteten Missbrauch zu begegnen, dass fast nur junge Männer zuwandern und dann ihre im Herkunftsland zurückbleibenden Familien finanziell unterstützen. Ganz zentral sind schließlich die geforderten Weichenstellungen auf europäischer Ebene: robuste Sicherung der EU-Außengrenzen, einschließlich der Seenotrettung durch FRONTEX und Ausschiffung der Geretteten in sichere Drittstaaten sowie zügige Umsetzung des neuen europäischen Asylsystems, das im Juni beschlossen wurde - einschließlich der Prüfung von Asylanträgen in Drittstaaten.
Wohlgemerkt: All dies sind Maßnahmen, die durch die harte Realität nötig geworden sind. Kein Liberaler würde sie sich in einer stabilen Lage an den Grenzen programmatisch wünschen. Aber die Lage ist eben nicht stabil. Zur Normalität ist der Ausnahmezustand geworden, und der verlangt das Maßnahmepaket. Es ist das Verdienst der Liberalen, dies als erste deutsche Partei klar ausgesprochen zu haben.
Man wird sehen, was die Ampelkoalition daraus macht. Mit etwas Pathos könnte man von einer weiteren "Zeitenwende" sprechen, inzwischen die dritte in den letzten zwei Jahren. Die erste war sicherheitspolitisch - mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine; die zweite war wirtschaftlich - mit dem jüngsten Absturz der deutschen Wirtschaft in die Rezession; die dritte ist nun eben migrationspolitisch - mit der Eindämmung der anschwellenden irregulären Zuwanderung. Bei allen drei Herausforderungen geht es übrigens um aufgestaute Altlasten, die aus der Ära Merkel stammen. So mancher Kritiker aus der Opposition sollte sich das klarmachen, wenn es an die Diskussion der Maßnahmenpakete geht. Die Ampel hat sich die Problemlage nicht ausgesucht. Sie hat sie geerbt.