Migrationspakt
Pragmatismus oder Zeichen der Schwäche? Visegrad-Länder reagieren zurückhaltend auf den Flüchtlingspakt
In die Flüchtlingspolitik ist Bewegung gekommen. Die EU-Kommission will im Vorfeld des EU-Gipfels den Vertretern der mitteleuropäischen Länder der Visegradgruppe (V4) entgegengekommen: „Flexible Solidarität“ heißt das Motto. Ein zwingendes Quoten- und Verteilungssystem von Flüchtlingen auf alle EU-Länder soll es so nicht geben. Zu lange hatten sich die V4 gegen den von Deutschland favorisierten Vorschlag zur Wehr gesetzt.
Die Weigerung der so genannten V4-Staaten blockierte jede europäische Lösung. Jetzt heißt es: Wer keine Flüchtlinge aufnimmt, solle sich gegebenenfalls finanziell an Kosten, etwa für die Rückschaffung nicht anerkannter Asylsuchender, beteiligen. Es gibt Gründe, das als einen Sieg des Pragmatismus zu sehen. Allerdings ist der Kompromiss noch sehr vage formuliert. Das erregt Misstrauen. Und die Gefahr besteht, dass das Angebot von manchen Ländern, die gegen Grundwerte der EU verstoßen, als Freifahrschein missverstanden wird.
Orbán bleibt bei harter Linie in Flüchtlingpolitik
Die ungarische nationalkonservative Regierung interpretierte die Tatsache, dass der Fokus des Kommissionsvorschlags auf dem Schutz der EU-Außengrenzen, der Kooperation bei Abschiebungen und verbesserter Zusammenarbeit mit Drittstaaten liegt, als Bestätigung der seit 2015 unveränderten Position Ungarns zur Migrations- und Flüchtlingspolitik. Gleichzeitig wurde die Beteiligung an Rückführungen abgelehnter Asylbewerber als einzig möglicher Beitrag zum Migrationspakt hervorgehoben.
Nach dem Treffen der V4-Regierungsschefs mit Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, dass, obwohl der „Ton“ besser geworden sei, der Vorschlag der Kommission keinen Durchbruch darstelle. Einen Durchbruch würde für ihn nur in Form von außereuropäischen Hotspots erreicht werden, also durch Erstaufnahmezentren für die Registrierung von Flüchtlingen, die ein Rechtsverfahren es durchlaufen müssten, bevor sie die EU betreten dürften. Orbán, der seit Jahren gegen muslimische Einwanderer in Ungarn agitiert und sich für die Verwandlung Ungarns in eine „illiberale Demokratie“ einsetzt, betonte, dass Ungarn weiterhin gegen eine verpflichtende Aufnahmequote sei, auch wenn der am Mittwoch vorgelegte neue Migrations- und Flüchtlingspakt der Europäischen Kommission einen anderen Begriff verwende.
Während regierungsnahe Medien den Vorschlag als eine schönere Verpackung des alten Pakets des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker bezeichnen, befürchten liberale Medien, dass Ungarn zu einer „deportierenden Nation“ werden könne.
Auch Tschechien lehnt verpflichtendes Quotensystem ab
Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš erklärte, positiv an dem Vorschlag der EU-Kommission sei, dass er keine verbindlichen Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen enthalte. Es sei wichtig, dass die EU-Staaten aufgrund der neuen Regeln selbst entscheiden könnten, wie sie die unter hohem Migrationsdruck stehenden Länder unterstützen. Die tschechische Regierung betont seit langem, keinen Mechanismus zu unterstützen, der auf einem obligatorischen Quotensystem beruht. Daran änderte auch das EuGH-Urteil vom April dieses Jahres nichts, dem zufolge Tschechien, Polen und Ungarn ihre Verpflichtungen, die sich aus dem EU-Recht ergeben, durch die Ablehnung von Flüchtlingsquoten verletzten. Früher galt Tschechien als ein offenes Land, das in den 90er Jahren Tausende von Flüchtlingen aus dem vom Krieg heimgesuchten Jugoslawien, darunter auch Muslime, empfing.
Die vorgeschlagene Lösung, die außer im Krisenfall auf verbindliche Flüchtlingsquoten verzichtet und auf effektivere Rückkehr illegaler Migranten abzielt, scheint für Tschechien dennoch eine gute Grundlage für weitere Gespräche zu sein. Die Regierung muss überlegen, wie sie bei den Verhandlungen vorgehen wird. Falls sie die Solidarität des Westens mit dem Osten innerhalb der EU aufrechterhalten will, muss sie zu einem Kompromiss in der Migrationspolitik bereit sein.
Der slowakische Premierminister Matovič fehlt beim Treffen mit der EU-Kommissionspräsidentin
Auch die Slowakei ist ein langjähriger Gegner der Umverteilung von Geflüchteten qua verbindlicher Quoten – die ehemalige sozialdemokratische Regierung klagte zusammen mit Ungarn sogar dagegen. Der EuGH wies die Klagen 2017 jedoch ab. Der neue Ministerpräsident Igor Matovič, dessen Antikorruptionsbewegung „Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen” die Parlamentswahlen im Februar 2020 deutlich gewann, nahm als einziger der vier Visegrád-Regierungschefs nicht am Treffen mit von der Leyen teil. In einer Facebook-Mitteilung lehnte er die Flüchtlingskontingente klar ab, äußerte er sich jedoch zurückhaltender als seine Kollegen aus der V4-Gruppe: „Wir werden unseren europäischen Partnern aufrichtig und mutig mitteilen, dass wir den verbindlichen Quoten grundsätzlich nicht zustimmen, aber gleichzeitig werden wir solidarisch den Ländern, die stark unter illegaler Migration leiden, eine helfende Hand anbieten." Zu welchen anderen Formen der Solidarität die Slowakei bereit sei, sagte er nicht.
Polen im Koalitionstrubel
Und dann ist da noch Polen, das auch zu den Hardlinern bei der Ablehnung der bisherigen Quotierungsvorschläge gehört. Die nationalkonservative Regierung steht im Fokus rechtstaatlicher Diskussionen, etwa mit Blick auf die geplante Justizrefom, die, so auch der EUGH, wesentliche europäische Werte beschränke. In Sachen Rechtsstaatlichkeit befindet sich das Land auf einem Kurs, der Beobachtern Kopfschmerzen bereitet. Der vorgeschlagene EU-Flüchtlingskompromiss wird in dieser Auseinandersetzung von der Regierung selbst als ein Entspannungssignal gesehen, als ein Sieg derer, die immer schon gegen die Einwanderung von Flüchtlingen und Quoten waren, aber auch ein Sieg gegen die Einmischung Dritter in innere Angelegenheiten, womit meist die EU gemeint ist.
In der Flüchtlingsfrage weiß sie die Bevölkerung hinter sich, die sich in Umfragen fast zu Dreivierteln gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht. Das heißt jedoch nicht, dass der Entwurf von der Regierung einfach und ohne Änderungswünsche durchgewunken werden wird. In den laufenden Koalitionsverhandlungen rivalisiert die nationalkonservative PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) gegenwärtig mit der kleineren, aber noch konservativeren Partei Solidarna Polska unter Justizminster Ziobro. Dabei wird vereinzelt Kritik laut, der neue Flüchtlingspakt sei ein Rückschritt gegenüber dem EU-Gipfel vom Juni 2018, weil der Entwurf einen Mechanismus vorsehe, der im Krisenfall verpflichtende Solidarität vorsehe. Die polnische Regierung dürfte aus ideologischen Gründen eine Lösung ohne Quote und Aufnahmezwang präferieren. Daher wird auch die polnische Seite mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Gipfel „nachbessern“ wollen. Der Koalitionspoker macht dies noch wahrscheinlicher.
Die EU am Ende der Durchsetzungskraft?
Auf EU-Seite muss man sich fragen, ob der neue Pragmatismus unerwünschte Nebenwirkungen haben könnte. Insbesondere die Regierungen von Polen und Ungarn fahren einen strikten Kurs gegen jedwede „Einmischung“ aus der EU. Deshalb muss die Debatte um den Flüchtlingspakt in einem erweiterten Kontext gesehen werden – etwa in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit. Schon auf dem EU-Gipfel im Juli 2020 war es den V4-Regierungen gelungen, eine wirksame Verknüpfung zwischen EU-Haushaltsmitteln und der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit abzuwehren – das eigentlich stärkste Mittel der EU, eigene Werte durchzusetzen. Die Sichtweise, in der V4-Position zur Flüchtlingsfrage das in der EU schwach ausgeprägte Subsidiaritätsprinzip mit Leben zu füllen, ist hinsichtlich Werten und Lastenteilung mindestens fragwürdig. Es steht jedoch zu befürchten, dass die EU am Ende klein beigibt und sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, also einer „flexiblen Solidarität“ ohne Verpflichtung im Krisenfall, zufriedengibt. Erpressen lassen sollte sich die EU jedoch nicht.