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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Reformen
Viel Moral, wenig Leistung!

Zur Jahreswende 2022/23: Deutschland steht nicht gut da. Wir brauchen einen Fahrplan für Reformen.
Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit © Thomas Imo/photothek.net

Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

© Thomas Imo/photothek.net

Der Dezember 2022 war ein schlechter Monat für unser Land: Zu Anfang schied die Männerfußball-Nationalmannschaft gleich in der Vorrunde in Qatar aus. Der Schluss bildete eine Silvesternacht der Gewalt in Berlin und anderen deutschen Städten. Davor gab es diverse miese volkswirtschaftliche Bilanzmeldungen: höchste Jahresinflationsrate seit 1948, schwächstes Wirtschaftswachstum der großen westeuropäischen Nationen in 2022 und glattes Verfehlen der Treibhausgas-Emissionsziele - durch Rückgriff auf die Kohle.

Bemerkenswert dabei ist, dass die meisten dieser trüben Ergebnisse in den Medien von Wellen der moralischen Bewertung begleitet wurden. In Qatar ging es dabei weniger um Fußball als um die (in der Tat menschenunwürdigen) Arbeitsbedingungen der dortigen ausländischen Arbeitskräfte; in der Analyse der Silvesternacht ging es vor allem um die Verantwortung der Gesellschaft - und weniger der Gewalttäter selbst; und in der Klimadiskussion geht es schon lange vor allem darum, immer neue anspruchsvollere Ziele zu setzen statt um die nüchterne Prüfung, ob und, wenn ja, wie diese erreicht werden könnten. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, wir Deutsche leben in einer Welt der Träume, nicht der realen Politik.

Eine überaus gefährliche Entwicklung! Geht sie so weiter, so kann sie uns Deutschen schnell den Ruf eintragen, die World Champions der Besserwisserei zu sein - voll von Ideen, wie die Welt gestaltet werden könnte, aber ohne die Fähigkeit, diese Ideen erfolgreich umzusetzen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Gründe dafür mag man in den Spätfolgen des deutschen Idealismus erkennen oder in der spezifischen Struktur unserer Medien. Beides überzeugt insofern nicht wirklich, als es ja früher mal Zeiten gab, in denen die Deutschen für ihr Organisationstalent weltweit bewundert wurden.

Was hat sich also geändert? Die Antwort ist eigentlich einfach: Deutschland hat sich seit den letzten großen Arbeitsmarktreformen vor fast 20 Jahren in den Merkel-Kanzlerjahren auf den Lorbeeren seines Erfolgs ausgeruht. Andere Industrieländer erlebten schwerste Krisen, Deutschland nicht. Das klassische Modell der deutschen Industriegesellschaft schien weiterhin recht gut zu funktionieren, trotz Finanz- und Euroschuldenkrise 2008-11, trotz Flüchtlingskrise 2015 und trotz Coronakrise 2020-22. Stets waren es die anderen, denen es schlechter ging - Deutschland kam relativ gut über die Runden. Erst in jüngster Zeit hat sich dies geändert, vor allem mit der Zeitenwende weg vom russischen Öl und Gas, die Deutschland besonders hart traf. Plötzlich besteht ein dringender Handlungsbedarf, der lange vorher verschleiert war.

Es ist höchste Zeit, ihn anzupacken. Das Reformpaket für mehr Wachstum („wirtschaftspolitische Zeitenwende“), das vom Bundesministerium der Finanzen entwickelt wurde, geht dabei in die richtige Richtung. Es ortet - vollkommen zu Recht - die Ursache für Deutschlands Rückstände in einer Wachstumsschwäche, die wiederum durch Engpässe auf der Seite des volkswirtschaftlichen Angebots bedingt ist. Welche sind dies? Fünf davon haben überragende Bedeutung:

  1. In Deutschland fehlt es an Arbeitskräften. Und das wird in der Zukunft noch schlimmer, da sich die große Generation der Babyboomer Schritt für Schritt aus dem Arbeitsmarkt zurückzieht. Wir brauchen deshalb viel mehr geregelte Zuwanderung, flexiblere Wochen- und Lebensarbeitszeiten, eine noch höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und eine Re-Integration durch Qualifizierung all jener rund zwei Millionen Menschen, die trotz derzeit ebenso vieler offener Stellen noch arbeitslos sind.
  2. Der Zustand der Infrastruktur in Deutschland ist für ein hoch entwickeltes Industrieland jämmerlich. Straßen- und Schienennetze müssen nach Jahrzehnten des Verschleißbetriebs erneuert werden. Dies gilt für alle Bereiche des Verkehrs, denn auch die künftige große Flotte an Elektroautos ist - genauso wie die Verbrennerfahrzeuge - auf funktionsfähige Pisten und Wege angewiesen. Hinzu kommt der riesige Bedarf an Lade-Infrastruktur, die praktisch erst in den Kinderschuhen steckt.
  3. Die Bürokratie lastet auf allen öffentlichen Projekten, die Genehmigungsverfahren sind viel zu lang und aufwändig. Die Bundesregierung avisiert eine Verkürzung auf die Hälfte, aber es gibt Streit zwischen dem Verkehrs- und dem Umweltministerium, ob dies nur für ökologisch relevante oder für alle Projekte gelten soll. Da tatsächlich alle Projekte für ein klimagerechtes volkswirtschaftliches Wachstum von Bedeutung sind (z.B. auch Straßen!), darf es in dieser Hinsicht keine Einschränkung geben.
  4. Die Digitalisierung ist in Deutschland im internationalen Vergleich völlig unzureichend. Sie muss massiv vorangetrieben werden. Sie ist praktisch überall von Bedeutung, d. h. sie hilft in all jenen Bereichen, in denen Wachstumsengpässe entstehen können: beim Einsatz von (zunehmend knappen) Arbeitskräften, beim Aufbau eines modernen, effizient nutzbaren Verkehrsnetzes und bei der Beschleunigung von Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsverfahren.
  5. Die Gründerkultur in Deutschland ist unzureichend, jedenfalls im Vergleich zu Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Israel. Dies liegt vor allem an bürokratischen und steuerlichen Rahmenbedingungen, die ein nachhaltiges Wachsen von innovativen Start-ups behindern, statt es zu begünstigen. Dies muss schnellstens geändert werden. Die Dichte von Start-ups in Großstädten mit starker öffentlicher Infrastruktur der Forschung muss drastisch zunehmen

Diese fünf Forderungen laufen auf eine Rundum-Erneuerung des Standorts Deutschland hinaus. Die ist auch nötig, um der deutschen Wirtschaft mit ihrer starken und innovativen Ingenieurstradition den Weg in die Zukunft zu ebnen. Es geht um eine Transformation, die weit über das Ökologische hinausgeht. Sie kraftvoll anzustoßen ist die Aufgabe der Bundesregierung. Nur wenn dies gelingt, kann Deutschland seine Leistungskraft wieder zurückgewinnen und seine selbstgesetzten Ziele auch erreichen.