Rede zur Lage der Union
Eine Rede von gestern
Es war die letzte Rede zur Lage der Europäischen Union von Ursula von der Leyen in ihrer ersten - und letzten (?) - Amtszeit als deren Kommissonspräsidentin. Inhaltlich hat sie nicht überrascht: Viel Selbstlob für die EU, vor allem wegen der Unterstützung der Ukraine. Viel Ankündigung (über-)ambitionierter Projekte in der Klimapolitik. Viel Worte zur Rechtfertigung eigener industriepolitischer Initiativen zur Stärkung Europas im Wettkampf um Weltmärkte mit China und den USA. Man kennt das von ihr.
Auffallend dabei, dass ein Thema fast komplett fehlte: der Abbau von Bürokratie. Einzige nennenswerte Neuerung: Ein Beauftragter der EU für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) soll ernannt werden und künftig der EU-Präsidentin direkt Bericht erstatten. Mehr nicht. Und dies, obwohl in Deutschland, immerhin der Heimat der Kommissionspräsidentin mit über 80 Millionen Einwohnern, der Bundesjustizminister - dem Normenkontrollrat folgend - gerade darauf hingewiesen hat, dass 57 Prozent aller Erfordernisse der Bürokratie in Deutschland ihren Ursprung in Brüssel (und nicht in Berlin) haben. Die Sklerose, die der deutschen Wirtschaft zu schaffen macht, ist also nicht nur hausgemacht durch hohe Steuern, Knappheit an Fachkräften und energiepolitische Alleingänge; sie ist eben auch in hohem Maße das Ergebnis der Fesseln, die ihr EU-Regulierungen anlegen.
Und es droht, noch viel schlimmer zu werden. Mit dem geplanten EU-Lieferkettengesetz, das im Entwurf vorliegt, würde für den Großteil des deutschen industriellen Mittelstands eine detaillierte Nachweispflicht über alle Stufen der globalen Wertschöpfungskette zur Pflicht - ein bürokratischer Albtraum, der im Übrigen auch die ärmsten Lieferländer besonders hart träfe. Jüngst wurde in der deutschen Presse berichtet, dass der prominente Kaffeeanbieter Dallmayr dabei ist, sich aus Äthiopien zurückzuziehen, weil die dortigen Kleinbauern außerstande sind, die bürokratischen Anforderungen des neuen EU-Gesetzes zu erfüllen. Also auch ein Desaster zu Lasten der Ärmsten der Armen - und nicht nur des deutschen Mittelstands. Schaffen wir uns damit neue Freunde in der Welt?
Man staunt. Und es liegt nahe zu vermuten, dass die innerdeutsche Diskussion bisher vollkommen an der EU-Zentrale in Brüssel vorbeigegangen ist. Dies liegt vielleicht daran, dass erst die jüngsten sommerlichen Stagnationsprognosen für die deutsche Wirtschaft hierzulande das Gefühl aufkommen ließen, dass auch wirtschaftlich eine Zeitenwende droht bzw. schon längst anläuft: weg von dem leichtfüßigen Wachstum mit Sprudeln der Steuereinnahmen im letzten Jahrzehnt hin zu einer schwerfälligen, stotternden Bewältigung der anstehenden Herausforderungen. Vorbei also auch der Anlass zur Selbstgewissheit, der die EU immer auszeichnete - auf dem Weg zum Vorbild der Welt. Wir sind das nicht mehr, weil wir als Großraum wirtschaftich zurückfallen - die Zahlen für Deutschland als dem größten und zentralsten Land der EU sind ein Vorbote für Europa als Ganzes. Aber Ursula von der Leyen ist anscheinend nicht in der Lage, dies zu erkennen, obwohl ihre Parteifreunde in Deutschland in ihrer Pflicht als hiesige Opposition permanent und penetrant darauf hinweisen.
Europa steckt in einer Führungskrise. Es braucht endlich Persönlichkeiten an der EU-Spitze, die den neuen Herausforderungen - nach der wirtschaftlichen Zeitenwende - gewachsen sind. Die neue Welt der 2020er Jahre sieht anders aus als die alte Welt der 2010er Jahre, die Merkel-Welt. Es geht nun ganz ernsthaft darum, ob die EU - jenseits von moralisierender Besserwisserei - jenes wirtschaftliche Gewicht in die Waagschale werfen kann, das erst den nötigen internationalen Einfluss sichert, der globale Gestaltung ermöglicht. Jedenfalls die EU-Kommission ist davon derzeit weit entfernt.