Replik auf Nobelpreisträger
History matters! Joseph Stiglitz liegt falsch
Ein bisher einmaliger Vorgang: Der US-Ökonom Joseph Stiglitz gibt in einer Wochenzeitung personelle Ratschläge für die Regierungsbildung in Deutschland. Konkret hält er den Parteichef der Liberalen, Christian Lindner, für ungeeignet, Finanzminister zu werden, und er möchte ihn auf einem anderen Posten der Ampelkoalition sehen – möglichst weit weg von der Kontrolle des Staatshaushalts. Stiglitz ist natürlich nicht irgendwer, sondern Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2001. Der 78-Jährige war von 1997 bis 2000 Chefökonom der Weltbank.
Stiglitz ist bekennender Keynesianer – mit Leidenschaft und Sprachkraft. Seit seinem Ausscheiden bei der Weltbank begleitet er die Entwicklung der Weltwirtschaft mit scharfen Kommentaren, die fast immer und überall eine massiv expansive Geld- und Fiskalpolitik fordern. Er gehört damit zu jener Gruppe amerikanischer Ökonomen, die im Rückblick den Washington Consensus zur Stabilisierung schuldengeplanter Volkswirtschaften scharf kritisierten und dem Abschluss des Europäischen Stabilitätspakts mit seinen Defizitregeln für den falschen Weg hielten. Eine explizite Schuldenbremse, wie sie Deutschland und die Schweiz haben, lehnen sie natürlich ab.
Genau so ist Stiglitz‘ Skepsis gegenüber Christian Linder und dessen fiskalpolitischen FDP-Programm zu verstehen. Die FDP setzt sich dezidiert dafür ein, dass Deutschland zur Einhaltung der Schuldenbremse zurückkehrt. Auf EU-Ebene steht sie für eine Rückkehr zu den Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts, schließt allerdings für Notsituationen wie die Schuldenkrise vor zehn Jahren und die jüngste Corona-Krise eine (durchaus massive) Abweichung von den mittel- und langfristigen Vorgaben auch für die Zukunft nicht aus. Es geht also bei der Kontroverse nicht um die Rettung im Krisenfall, sondern um die Standards im Normalfall.
Da allerdings tut sich ein großer Gegensatz auf. In den Schlagworten der achtziger Jahre ist es der alte Gegensatz zwischen Nachfrage- und Angebotsökonomen, der über lange Jahre die Fachjournale und Lehrbücher der Volkswirtslehre beherrschte. Im Kern läuft er auf den Streit hinaus, wie elastisch das Güterangebot in einer Volkswirtschaft auf Nachfrageimpulse reagiert: Tut es dies leicht und friktionslos, wie Keynesianer glauben, oder tut es dies nicht, wie die Gegenseite vermutet?
Theoretisch lässt sich darüber natürlich endlos streiten. In der Praxis der Wirtschaftspolitik ist aber entscheidend, was die gesamtwirtschaftlichen Indikatoren an Knappheitssignalen anzeigen. Das letzte Jahrzehnt war nun in der Tat eine Dekade außerordentlich schwacher Preisinflation, niedriger Zinsen und mäßiger Lohnabschlüsse – und zwar fast global. Dies stärkte die Sicht jener, die politisch für eine expansive Geld- und Fiskalpolitik argumentierten. Nicht zuletzt aufgrund der langen Nachwirkungen der Weltfinanzkrise und dann wieder durch den Nachfrageausfall infolge von Corona war es naheliegend, dass die Zentralbanken und der Staat ihre Rolle als „Lender of Last Resort“ sowie Initiator öffentlicher Aufträge offensiv ausfüllten. Dies geschah – zuletzt auch in der EU in dem gewaltigen Ausmaß der beschlossenen Rettungspakete. Und diese wirken: In der Spätphase von Corona, in der wir stecken, haben sich die Wachstumsraten kräftig erholt – und zwar in der gesamten westlichen Welt.
Allerdings stockt die Erholung. Aber sie tut es nicht aus Nachfragemangel, sondern aufgrund zuletzt massiver Verknappung von Rohstoffen und Zwischenprodukten auf den Weltmärkten, wo es zu einem kräftigen inflationären Schub gekommen ist, der noch anhält. Die Konsumentenpreise stiegen zuletzt im Vorjahresvergleich um über vier Prozent, die Großhandelspreise schnellten mit zweistelligen Raten nach oben, was es seit den siebziger Jahren nicht gegeben hat. Diese Entwicklung birgt die Gefahr in sich, dass die Preiserwartungen nach oben schießen – und damit auch Zinsen und Löhne. Das wiederum könnte zu einer Preisspirale führen, wie wir sie seit den beiden Ölkrisen 1973/75 und 1980/82 nicht erlebt haben. Noch sieht es danach nicht aus, aber die Situation könnte schnell außer Kontrolle geraten, wenn sich inflationäre Erwartungen verfestigen.
Gerade für Deutschland und Europa ist diese Gefahr von überragender Bedeutung, weit mehr als für die USA. Dies hat historische Gründe: Zum einen haben die Menschen in Deutschland ein langes Gedächtnis. Sie haben im 20. Jahrhundert drei Währungsreformen erlebt – 1923, 1948 und im Osten des Landes 1990, jeweils als Ergebnis eines katastrophalen Missmanagements der Geld- und Fiskalpolitik. Sie reagieren auf die kleinste Vertrauenskrise allergisch. Insofern ist keineswegs klar, dass die niedrigen Zinsen von Dauer sind, wenn einmal das Vertrauen wegbricht, weil die Inflation losgaloppiert. Geschähe dies, so hätte es gewaltige Rückwirkungen auf die Stabilität in Europa. Denn Deutschland ist wirtschaftlich und finanzpolitisch der zentrale Anker der EU und darüber hinaus. Es ist von überragender Bedeutung, dass dieser Anker hält, sonst bricht die Eurozone zusammen.
Fazit: Die deutsche und die europäische Politik tut gut daran, einen gewissen Fiskalkonservatismus in ihre Entscheidungen einzupflanzen. Eine solche Einstellung ist alles andere als eine „vorsintflutliche haushaltspolitische Agenda“, wie sie Joseph Stiglitz nennt. Sie ist vielmehr die Voraussetzung für langfristige Prosperität auf einem Kontinent, der sehr vorsichtig mit seiner Bonität umgehen muss, um volkswirtschaftliches Wachstum mit Preisstabilität zu sichern. Dies gilt umso mehr in den nächsten Jahren, sobald die gesamtwirtschaftliche Kapazität aufgrund der demografischen Entwicklung langsamer zunehmen wird als in der Vergangenheit. Gerade diese neue Lage erfordert Umsicht in der makroökonomischen Steuerung und eben keine keynesianischen Experimente. Also: nicht Stiglitz hat Recht, sondern Lindner.
Dieser Artikel erschien am 1. November 2021 in der WiWo und ist online hier zu finden.