Schuldenbremse
Theoretiker der Tragfähigkeit
Die Schuldenbremse ist ernst zu nehmen. So lautet die politische Botschaft der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts vom November letzten Jahres, das die laufenden Haushaltsverhandlungen der Ampelkoalition komplett durcheinanderwarf. Kaum kehrt jetzt wieder Ruhe ein, liefert der Sachverständigenrat einen differenzierten Denkanstoß zur Reform der Schuldenbremse. Er läuft im Kern auf drei Punkte hinaus:
Erstens: Streckung der Rückkehr zur strikten Verschuldungsgrenze von 0,35 Prozent des BIP nach einer Notlage, die dann gewissermaßen eine fiskalische Nachwirkung über mehrere Jahre hätte.
Zweitens: Flexibilisierung des Limits der Nettoneuverschuldung je nach bereits erreichter gesamtwirtschaftlicher Schuldenquote - bei hoher Quote niedriges Limit, bei niedriger Quote höheres Limit.
Drittens: Verbesserung der offenbar revisionsanfälligen Berechnungsmethodik für das Produktionspotenzial, um die Konjunkturlage präziser und schneller identifizieren zu können.
Die drei Vorschläge sind von unterschiedlichem politischen Gewicht. So ist die Revision der Statistik des Produktionspotenzials eine Sache, die man getrost den Fachleuten überlassen kann. Ganz anders die Streckung der Rückkehr aus der Notlage und die Aufweichung bei erreichtem niedrigeren Schuldenstand. Beide Vorschläge treffen den politischen Kern der Schuldenbremse.
Ohne Frage sind sie politisch gut gemeint und akademisch gut durchdacht. Sie sollen der Ampelkoalition und künftigen Regierungen erlauben, anders als jüngst eine graduellere, weichere Anpassung an die Realitäten knapper Kassen zu gewährleisten und vor allem Einschnitte bei den Investitionen vermeiden helfen. Sie wollen, wie der Rat selbst formuliert, das Ziel der Tragfähigkeit retten, aber fiskalische Auffahrunfälle wie jüngst vermeiden.
Rustikale Realität
Was den Mitgliedern des Rats dabei fehlt, ist wohl die robuste praktische Erfahrung als Ministerin oder Minister der Finanzen in einem Bundes- oder Landeskabinett. Diese Erfahrung lehrt: Jede Großzügigkeit in der Aufweichung fiskalischer Grenzen führt keineswegs zu weniger konfliktreichen Haushaltsaufstellungen und –verhandlungen, sondern wird natürlich von den Ressortleitern gnadenlos für höhere Forderungen genutzt, die dann genauso hart vertreten werden, wie bei strengerem Limit. Mehr als das: Weiß die Politik von vornherein, dass etwa im Nachgang zu einer Notlage noch einige Jahre mehr fiskalischer Spielraum lockt, so wird die Versuchung groß sein, die Notlage unbedingt ausrufen zu lassen und, wenn dies gelingt, die eigenen Projekte weniger scharf nach Prioritäten zu ordnen. Ähnliches gilt für den zweiten Vorschlag: Wer heute schon weiß, dass er morgen weniger sparen muss, der wird die Ausgabenpläne entsprechend umschichten. Leiden wird dabei die langfristige fiskalische Disziplin.
Genau hier liegt das Problem des Vorschlags der fünf Waisen. Sie interessiert eigentlich nur, ob noch Spielraum da ist zur Aufweichung, ohne dass die Tragfähigkeit der staatlichen Schuldenlast am Kapitalmarkt gefährdet ist. Damit legen sie die Latte sehr niedrig. Aus zwei Gründen ist dies gerade im Fall Deutschlands eine überaus riskante Strategie. Zum einen kennt niemand die Grenze der Tragfähigkeit – und seit der Weltfinanzkrise wird darüber heftig gestritten, auch akademisch. Zum zweiten ist unsere Nation der große Stabilitätsanker der Eurozone. Würde dieser Anker zerbrechen, hätte dies für den Euro verheerende Folgen. Es lohnt sich deshalb, eine Art kaufmännische Vorsicht walten zu lassen, so wie es etwa die Schweiz – auch mit Schuldenbremse – seit den 2000er Jahren vorgemacht hat. Ergebnis: niedrige Zinsen für langfristige Staatsanleihen, die niedrigsten in Europa.
Die Schweiz als Vorbild
Kostet dies wirklich Zukunftsinvestitionen? Ein Blick in die Schweiz belegt das Gegenteil. Das fiskalisch frugale Alpenland verfügt in fast jeder Hinsicht über eine hervorragende öffentliche Infrastruktur. Allerdings hat es auch einen besser funktionierenden, schlankeren und zielgenaueren Sozialstaat – und damit viel niedrigere konsumtive Ausgaben. Genau in diese Richtung muss Deutschland sich entwickeln, soll es langfristig die Tragfähigkeit seiner Schuldenlast absichern, kommende Generationen fair behandeln und Zinssteigerungen vermeiden. Gerade die Schuldenbremse in ihrer harten herkömmlichen Form ist dabei das richtige Instrument: Sie stellt die Politik vor die Alternative, entweder den Haushalt vom Staatskonsum zu Investitionen umzustrukturieren oder die Steuern zu erhöhen.
Diese Alternative wird die finanzpolitische Diskussion der nächsten Jahre beherrschen, weit über die Bundestagswahl 2025 hinaus. Die Kontroversen werden dabei härter denn je, zumal nach dem Aufbrauchen des Sondervermögens für die Bundeswehr der komplette sicherheitspolitische Finanzbedarf in den normalen Haushalt übernommen werden muss. Neue Sondervermögen zu schaffen, wie es derzeit der Wirtschaftsminister Robert Habeck für die Transformation der Wirtschaft fordert, wäre dabei ein komplett systemwidriger Weg. Er würde die Transparenz, die wir gerade dabei sind zurückzugewinnen, nur wieder aufs Neue gefährden. Und er würde wieder einmal den Druck zur Reform des Sozialstaats und zur Senkung von Subventionen mindern. Genau wie in der Vergangenheit. Das können wir uns nicht leisten.