RE:START21
Restart für Italien – Wiederaufbauplan als Wendepunkt?
Italien befindet sich seit Jahren im Krisenmodus – der riesige Schuldenberg und Reformstau, die chronische politische Instabilität und zuletzt auch noch das Coronavirus haben das Land schwer angeschlagen. Mario Draghis Regierung der "nationalen Einheit" hat einen Wiederaufbauplan durchgesetzt, der das Land wieder auf Wachstumskurs bringen soll. Die rund 200 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfspaket der EU werden dafür verwendet; eine beispiellose Summe und einmalige Chance, das Land zu modernisieren. „Für die Reformen garantiere ich“, verspricht Italiens Regierungschef. Doch wie substanziell sind die Pläne wirklich? Das haben wir den Experten Carlo Stagnaro vom Istituto Bruno Leoni gefragt.
Der 300-seitige Wiederaufbauplan der Regierung will fast alle langjährigen Probleme Italiens auf einmal angehen, von der Steuerreform, über die Marktliberalisierung und bis zur Modernisierung der Verwaltung. Was steht genau drin?
Der „nationale Plan für Wiederaufbau und Resilienz“ (PNRR) sieht eine Reihe von Reformen und Investitionen vor, gegliedert in sechs Kapitel: 1) Digitalisierung, Innovation, kulturelle Wettbewerbsfähigkeit; 2) Grüne Revolution und ökologischer Übergang (u.a. erneuerbare Energien und nachhaltige Landwirtschaft); 3) Infrastruktur für nachhaltige Mobilität; 4) Bildung und Forschung; 5) soziale Inklusion und Kohäsion; 6) Gesundheit (Erneuerung des Gesundheitssystems). Generell lässt sich konstatieren, dass der Plan nicht sonderlich detailliert auf einzelne Investitionen oder Reformen eingeht, aber eine Richtung vorgibt. Geplant ist die vollständige Verwendung der europäischen Mittel (191 Mrd. Euro in Form von Zuschüssen und Darlehen und 13 Mrd. Euro aus dem Strukturfond React-EU), ergänzt durch etwa 30 Mrd. Euro aus einem nationalen Fond. Der Plan setzt großes Vertrauen in die Fähigkeit des Landes, die Mittel vollständig und effizient auszugeben voraus, was angesichts der Erfahrungen mit den europäischen Kohäsionsfonds alles andere als selbstverständlich ist. (Anmerkung: Italien hat zwischen 2014 und 2020 wegen überbordender Bürokratie, unklarer Kompetenzabgrenzungen zwischen Staat und Regionen und einer ineffizienten Justiz nur rund 40 Prozent der von Brüssel bewilligten Mittel tatsächlich abgerufen). Vor allem ist die Hoffnung groß, die Wirtschaft durch die massiven öffentlichen Ausgaben wiederzubeleben. Tatsächlich entspricht der Plan also - vielleicht zwangsläufig - der keynesianischen Logik: Ausgaben zu tätigen, um eine kurzfristige wirtschaftliche Erholung zu stimulieren. Andererseits scheinen nicht alle der geplanten Investitionen darauf abzuzielen, das potenzielle Wirtschaftswachstum langfristig zu erhöhen.
Als wie effizient bewerten Sie den Plan im Hinblick auf das Ziel der nachhaltigen Modernisierung und digitalen Transformation Italiens?
Einige der vorgeschlagenen Investitionen stimmen mit den angestrebten Ergebnissen überein: Ich denke da zum Beispiel an die Förderung der Digitalisierung in kleinen und mittleren Unternehmen. Andere Vorhaben lassen Zweifel aufkommen: So werden 25 Milliarden zur Finanzierung von Investitionen in die Entwicklung des Eisenbahnnetzes, insbesondere von Hochgeschwindigkeitszügen, verwendet, die jedoch nur einen kleinen Teil der Güter- und Personenbeförderung im Land ausmachen. Hinzu kommt, dass die Fördermittel nur einen Teil der Investitionskosten abdecken; die Finanzierung der laufenden Infrastruktur- und Betriebskosten bleibt offen. Im Aufbauplan bleibt oft unklar, nach welchen genauen Kriterien die Mittel zugeteilt wurden. Zum Beispiel werden im Kapitel zur ökologischen Transformation einigen Technologien zur Dekarbonisierung (wie erneuerbarem Wasserstoff, Biomethan und Photovoltaik) erhebliche Ressourcen zugewiesen, während andere völlig ignoriert werden (z.B. Biokraftstoffe). Was die dringend benötigte Reform der öffentlichen Verwaltung anbelangt, wird - abgesehen von den guten Absichten - nur eine Reihe von Neueinstellungen präzisiert. Kurz gesagt: es wird viel Geld ausgegeben, aber nicht alles davon ist notwendig, und einiges davon kann sogar zu kostspieligen Trugschlüssen führen.
Kann der Plan also überhaupt dazu beitragen, tiefgreifende Strukturreformen durchzuführen und das von der Pandemie schwer getroffene Italien langfristig wiederzubeleben?
Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten, da es nur wenige Details über die Strukturreformen gibt. Hier aber ein paar Beispiele: Zum Thema Wettbewerb werden viele Versprechungen gemacht, von denen einige sehr positiv zu bewerten sind (z.B. die Reform der lokalen, öffentlichen Dienstleistungen). Aber viele Fristen zur Umsetzung reichen bis weit über das Ende der laufenden Legislaturperiode (bis 2023) hinaus. Wie glaubwürdig sind politische Verpflichtungen, über die die aktuelle Regierung keine Kontrolle hat? Ähnlich widersprüchlich und oberflächlich sieht es in Bezug auf Reformen der öffentlichen Verwaltung und der Justiz aus. Ein Optimist könnte hoffen, dass diese Vereinfachungen darin begründet sind, dass die Regierung bereits einen Plan in der Tasche hat, den sie noch nicht preisgeben will. Ein Pessimist könnte befürchten, dass - wie schon in der Vergangenheit – die Ziele nicht erreicht werden und es sich bei der vereinbarten Erfüllung der Empfehlungen der Europäischen Kommission um bloße Versprechungen handelt.
Die Coronavirus-Krise verändert die sozioökonomische Landschaft in ganz Europa und trifft benachteiligte Bevölkerungsgruppen besonders hart. Berücksichtigt der Wiederaufbauplan Vorhaben für einen Neustart, der Chancen für alle Menschen in der Gesellschaft bietet und niemanden zurücklässt?
Die Pandemie und die Abschottungsmaßnahmen haben sich überproportional auf Frauen ausgewirkt, da die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt immer noch unzureichend ist. In Süditalien liegt die Beschäftigungsquote von Frauen immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau, obgleich die Frauen für mehr berufliche Gleichberechtigung kämpfen. Diese Situation mag teilweise von Faktoren abhängen, auf die kurzfristig reagiert werden kann, aber letztendlich spielen strukturelle Probleme eine Rolle: Da wären z.B. die geringere (wenn auch wachsende) Beteiligung von Frauen in MINT-Fächern und die Ineffizienz des Kinderbetreuungsnetzes zu nennen – in einem Land, in dem das Familienmanagement immer noch stark auf den Schultern der Frauen ruht. Der PNRR sieht 17,2 Milliarden Euro für Programme zur Überbrückung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten vor, etwa für die Förderung von Frauen oder jungen Menschen. Aber auch hier bleibt der Plan vage. Die Fähigkeit der Wirtschaft, Chancen auch für tendenziell benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu schaffen, hängt von der Fähigkeit des Wirtschaftssystems ab, Wachstum und Innovation zu generieren. Maßnahmen, die eine Förderung des langfristigen Wachstums bewirken, sind für alle Menschen in der Bevölkerung vorteilhaft.
Kann der Aufbauplan dazu beitragen, das Vertrauen der europäischen Partner und auch der eigenen Bevölkerung in die italienische Politik wiederherzustellen?
Das ist die wohl wichtigste Frage. Grundsätzlich basiert das „Next Generation“-EU-Programm auf dem Prinzip, dass Länder, die Fördermittel erhalten, sich gleichzeitig zu wachstumsfördernden Reformen verpflichten müssen. Italien, das der größte Nutznießer des Programms ist, sollte daher aus meiner Sicht besonders strenge Verpflichtungen erfüllen. Aber werden die Kommission und der Rat die politische Kraft haben, finanzielle Mittel zurückzuhalten, wenn Italien in Zukunft seinen Reformverpflichtungen nicht nachkommen sollte? Theoretisch ja, aber die Erfahrung zeigt, dass dies fast nie der Fall war. Es genügt, die sich Jahr für Jahr wiederholenden, länderspezifischen Empfehlungen zu lesen, von denen einige eigentlich das Herzstück des Reformteils im Aufbauplan sind. Im Vergleich zu früheren Entwürfen stellt die nach Brüssel geschickte aktuelle Version aber eine deutliche Verbesserung dar, da sie die zentrale Bedeutung von Reformen anerkennt und versucht, geplante Investitionen in den Kontext des langfristigen Wachstums sowie der kurzfristigen Erholung zu stellen. Es ist daher wichtig, die Maßnahmen kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Die Gretchenfrage ist also, ob dieses Mal den Worten wirklich Taten folgen. Ich komme auf die Antwort zurück, die ich zuvor gegeben habe: Der Optimist hofft es, aber der Pessimist befürchtet das Gegenteil.
Carlo Stagnaro ist Forschungsleiter des Bruno-Leoni-Instituts, eines italienischen Think Tanks mit Sitz in Mailand und Turin, der sich für die Förderung einer freien Markt- und Wettbewerbskultur einsetzt. Das Interview führte Rahel Zibner, Projektmanagerin für Spanien, Italien und Portugal der Friedrich-Naumann-Stiftung in Madrid.