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Italien
„Die politische Landschaft Italiens kann europäischer werden, als sie es bisher war!“

Ein Interview mit Costanza Hermanin, Vorstandsmitglied von PiuEuropa
Mario Draghi
Der neue italienische Premierminister Mario Draghi. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Andrew Medichini

Im Interview mit Rahel Zibner erklärt Costanza Hermanin, Vorstandsmitglied der liberalen, pro-europäischen Partei PiuEuropa, was die neue Regierungskoalition für Italien bedeuten könnte. Sie erhofft sich ein europäischeres, offeneres Italien. Die Regierung Draghi wird stabil bleiben, und vor allem überfällige wirtschaftliche und finanzpolitische Reformen durchführen, so Hermanin.

Frau Hermanin, lassen Sie uns direkt ins Thema einsteigen: Italien hat eine neue Regierung. Um vorgezogene Neuwahlen zu vermeiden, beauftragte Staatspräsident Sergio Mattarella den ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi, ein Expertenkabinett zu bilden. Italiens Geschichte ist reich an sogenannten „Technokraten-Regierungen“. Was genau ist eigentlich damit gemeint?

Die Technokraten-Regierung ist ein bewährtes Modell in Italien, wenn sich keine andere tragbare Option findet. Seit den 1990er Jahren ist dies nun schon die fünfte Regierung dieser Art, die vor allem während der großen Finanzkrisen aufgelegt wurde. Die Regierung Draghi ist aber eigentlich keine Technokraten-Regierung. Es steht zwar ein technokratischer Premierminister an der Spitze, aber die Regierung besteht aus einer breiten Koalition fast aller politischen Parteien im Parlament plus externer Fachexperten. Einzig die extremen Rechten und Linken sind nicht beteiligt. Wir sprechen also von einer politischen Regierung, die von einem Technokraten geleitet wird.

Was bedeutet das für die Entwicklung der italienischen Parteienlandschaft?

Die Zersplitterung der Parteienlandschaft, aus der die Notwendigkeit einer technischen Regierung zur Überwindung der Krise resultiert, eröffnet zugleich neue Räume. Die linke Mitte ist nicht in der Lage, eine glaubwürdige Regierung vorzuschlagen. Die 5-Sterne-Bewegung spaltet die Demokratische Partei, die von einem internen Kampf verzehrt wird. Die rechten Parteien, wie Forza Italia oder die Lega, befinden sich im Wandel. Somit gibt es einen Bedarf, die politische Mitte zwischen diesen beiden Polen durch liberaldemokratische Parteien zu besetzen. Auch eine grüne Bewegung könnte entstehen. Es kann also durchaus sein, dass die politische Landschaft Italiens europäischer wird, als sie es bisher war.

Werden es die liberalen Akteure schaffen, sich zu vereinen und den Platz in der politischen Mitte wirkungsvoll zu füllen?

Sie werden sich aus der Not heraus vereinigen, weil jeder für sich zu klein ist, um Erfolg zu haben und Gehör zu finden. Sie haben auch die gleichen Ideen. Die Anführer der Parteien mögen sich aber nicht. Die Herausforderung ist deshalb, Fragen der Persönlichkeit durch Fragen des Inhalts zu ersetzen. PiuEuropa ist ein Mitglied der ALDE, die anderen liberalen Akteure nicht. Es gibt liberal orientierte Parteien, die sich von der sozialdemokratischen Front losgesagt haben, wie z.B. Azione oder Italia Viva. Wir müssen vermeiden, dass diese Gegensätze zu einem politischen Problem für die Liberalen in Italien werden.

Wie Sie erwähnt haben, tritt der neue Ministerpräsident mit einer Regierung an, die fast das gesamte politische Spektrum abdeckt – ein Zusammenschluss von Parteien, die bis vor kurzem noch hoffnungslos zerstritten schienen. Wird die Regierung die Fähigkeit haben, das Land aus der Coronakrise zu führen?

Die Regierung wird bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2023 stabil sein. Trotzdem sind Wahlen schon im kommenden Jahr nicht ausgeschlossen, sobald die Regierung das Land aus der Krise geführt hat. Das würde beinhalten, einen Plan umzusetzen, der die berühmte Herdenimmunität sicherstellt und das Wirtschaftswachstum ankurbelt, um zumindest wieder das niedrige Niveau der vergangenen Jahre zu erreichen. Italien ist eines der Länder mit dem niedrigsten Wirtschaftswachstum in Europa. Die Regierung wird vor allem wirtschaftliche und finanzpolitische Reformen durchführen. Dies ist ihr Mandat. Die politische Zusammensetzung erlaubt keine tiefgreifenden Reformbemühungen. Wahrscheinlich wird nicht einmal die dringend benötigte Rentenreform oder eine Änderung der restriktiven und ineffizienten Einwanderungspolitik vorgenommen. Unsere Rolle in dieser Regierung sehen wir daher darin, drängende Themen wie Justiz, Einwanderung und Wettbewerbsfähigkeit auf die politische Agenda zu setzen.

Die vorherige Regierung stürzte infolge eines Streits über die Verwendung der zugesagten Milliardenhilfen der EU. In seiner ersten Rede als Premierminister vor dem Parlament betonte Draghi die Dringlichkeit von Reformen im Steuer- und Justizsystem sowie in der öffentlichen Verwaltung. Wie kann sichergestellt werden, dass die Mittel effizient und nachhaltig ausgegeben werden?

Italien ist in mit rund 209 Mrd. EUR der größte Nutznießer der EU-Coronahilfen. Im Vergleich zum Rest Europas sind wir privilegiert und dessen sollten wir uns bewusst sein. Die Draghi-Regierung wurde aus der Besorgnis über die richtige Verwendung heraus geboren, weil es eine völlig andere Struktur braucht, diese Mittel effektiv auszugeben. Eine Person auszuwechseln, ist aber nicht genug. Ich hoffe, dass es eine engmaschige Kontrolle der nationalen Ausgabenpläne durch die Europäische Kommission geben wird. Auch braucht es eine Menge Vertrauen. Ich bin hoffnungsvoll, dass wir es schaffen. Das Problem ist, dass wir jedes Mal, wenn wir etwas Wichtiges tun müssen, eine technokratische Regierung brauchen. Wir müssen uns fragen, warum und wie wir unser politisches System reformieren können.

Wo kann man ansetzen, das politische System zu reformieren und das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen?

Die 5-Sterne-Bewegung und die Lega sind groß geworden, weil sie aus der durchaus berechtigten Kritik an der politischen und regierenden Elite Kapital geschlagen haben. Diese Kritik wird von vielen Bürgern geteilt. Darüber sollten die so genannten „Mainstream-Parteien“ reflektieren, denn sie haben nach wie vor die gleichen Führungsprinzipien, die sie bereits vor zwanzig Jahren hatten. Die nächste Generation sollte auf die Politik vorbereitet und Teil eines neuen politischen Angebots sein.

Wie kann man ein Land, das seit Jahren stagniert und nun auch noch die Coronakrise zu bewältigen hat, wieder zu Wachstum bringen?

Jeder sagt: ‚Lasst uns in die Infrastruktur investieren!‘ Wir jedoch sagen: Anstatt in die Infrastruktur zu investieren, müssen wir die Strukturen abbauen, die die Wettbewerbsfähigkeit des Landes untergraben. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, die sicherstellen, dass es keine Monopole und Privilegien bei der Energiewende und der digitalen Transformation gibt. Außerdem müssen die sozialen Probleme Italiens bewältigt werden. Dazu gehört, die Situation von Frauen durch Bildung zu verbessern. Wir müssen sicherstellen, dass die Unterbrechung der Karriere, um Kinder zu haben, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer normal ist. Die niedrige Beschäftigungsquote von Frauen, geschlechtsspezifische Diskriminierung oder der demographische Wandel sind Aspekte, die in der italienischen Politik keine Beachtung finden. Eine Dimension der Wettbewerbsfähigkeit ist auch, im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft über einen tragfähigen Untergrund in der sozialen Struktur zu verfügen.

Das alles hängt auch mit Bildung zusammen, um Chancengerechtigkeit zu schaffen.

Ganz genau! Italien ist eines der europäischen Länder, die am wenigsten für Bildung und Forschung ausgeben, nämlich weniger als 1% des BIP. Wir müssen die berufliche Bildung priorisieren, weil die Leute, die gut ausgebildet sind, ins Ausland gehen. Viele junge Menschen bleiben ohne abgeschlossene Berufsausbildung, denn sie verlassen das Land noch vor dem Abschluss. Es gibt keine Perspektive und keine Jobs für sie. Bildung hingegen schafft Alternativen.

Costanza Hermanin ist Vorstandsmitglied der liberalen, pro-europäischen Partei PiuEuropa, die nach Jahren in der Opposition Teil der neuen Regierungskoalition in Italien ist. Zudem ist sie Policy Leader Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

Die Fragen stellte Rahel Zibner, Projektassistentin im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Spanien, Italien und Portugal mit Sitz in Madrid.