Wirtschaft
Neue Chance für Freihandel mit Indien
Die indische Regierung sieht den Handelspakt RCEP in ihrer Nachbarschaft als Weckruf. Sie will nun eigene Freihandelspläne vorantreiben. Das bringt gute Chancen für eine Annäherung an die EU.
Beim größten Handelsabkommen der Welt steht Indien an der Seitenlinie. Als die Staats- und Regierungschefs der führenden Volkswirtschaften Ostasiens im November die neue Freihandelszone RCEP mit ihrer Unterschrift besiegelten, sah der indische Premierminister Narendra Modi aus der Ferne zu. Er hatte bereits ein Jahr vorher ausgeschlossen, dass sich sein Land dem Pakt zwischen den zehn Staaten Südostasiens sowie China, Japan, Korea, Australien und Neuseeland anschließen würde. Zu groß war in Neu-Delhi die Sorge davor, dass das Abkommen die wirtschaftliche Dominanz Chinas in der Region noch weiter verstärken würde.
Den Abschluss des Rekord-Handelspakts, der rund 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung umfasst, sieht man in Indien nun aber als Weckruf. Nachdem Modis Regierung zuletzt eher auf protektionistische Politik setzte und die Skepsis vor Freihandelsabkommen schürte, änderte sich die Rhetorik zuletzt spürbar. Die Führung des Landes will ihre eigenen Freihandelspläne vorantreiben und setzt dabei große Erwartungen in Verhandlungen mit der Europäischen Union.
Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar kam darauf bereits wenige Tage nach der RCEP-Unterzeichnung zu sprechen: "Ich möchte ein faires und ausbalanciertes Freihandelsabkommen mit der EU erreichen", sagte er. Seine Regierung hofft, dass es im kommenden Jahr anlässlich des für Mai geplanten EU-Indien-Gipfels in Portugal zu wesentlichen Fortschritten kommen könnte. Die portugiesische Regierung hat eine Vertiefung der Beziehungen zu Indien zu einem zentralen Ziel ihrer im Januar beginnenden Ratspräsidentschaft erklärt.
Ein Freihandelsvertrag zwischen Indien und der EU ist schon seit Jahren ein Thema. 2013 wurden die Gespräche aber gestoppt, weil eine Einigung damals nicht absehbar war. Bei einem virtuellen EU-Indien-Gipfel im vergangenen Sommer einigten sich beide Seiten darauf, Gespräche über eine Handelsvereinbarung auf Ministerebene aufzunehmen. Einen Zeitplan für einen Neustart der Verhandlungen gibt es zwar noch nicht. Zuletzt berichteten aber sowohl ranghohe Beamte aus Europa als auch aus Indien, dass sie bei der jeweils anderen Seite ein steigendes Interesse an einem möglichen Freihandelsdeal bemerkten.
Wirtschaftsvertreter in Indien setzen sich vehement für die Verhandlungen ein: "Indien sollte keine Zeit verlieren", forderte jüngst der Chef der indischen Außenhandelsvereinigung FIEO, Sharad Kumar Saraf. Er sieht eine Chance darin, dass die EU derzeit versucht, ihre Wirtschaftsbeziehungen in Asien zu diversifizieren: "Die aktuelle China-Skepsis in Europa könnte Indien helfen und wir sollten diese Gelegenheit keinesfalls verstreichen lassen", sagt er.
Die EU war im vergangenen Jahr Indiens größter Handelspartner mit einem Handelsvolumen von rund 80 Milliarden Euro. Für indische Exporteure war die EU der zweitwichtigste Markt hinter den USA. Ein Freihandelsabkommen würde die Geschäfte wohl kräftig antreiben: Eine im Juni veröffentlichte Studie des Wissenschaftlichen Diensts des Europäischen Parlaments geht davon aus, dass Europas Exporte nach Indien mit einem Handelsabkommen um mehr als 50 Prozent steigen dürften. Indiens Ausfuhren nach Europa würden demnach wohl um mehr als 30 Prozent zulegen.
Einen solchen Schub hätte die indische Wirtschaft dringend nötig. Das Land, das noch vor wenigen Jahren als die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt galt, steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) rechnet für das laufende Jahr mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um neun Prozent. Die wirtschaftlichen Probleme liegen nicht nur an der Coronakrise: Schon vor Beginn der Pandemie war Indiens Wirtschaftswachstum stetig zurückgegangen. Modis Versuch die heimische Wirtschaft mit höheren Importzöllen zu stärken, funktionierte bisher nicht.
Der frühere oberste Wirtschaftsberater Modis, der Ökonom Arvind Subramanian, fordert statt Abschottung eine stärkere Öffnung für den Welthandel, um eine wirtschaftliche Kehrtwende in dem Land einzuleiten. "Alle Erfahrungen rund um den Globus haben gezeigt, dass sich konstant hohes Wachstum nur mit einer dynamischen Exportwirtschaft erreichen lässt", schrieb er in einem Gastbeitrag.
Sich stärker auf globalen Handel einzulassen, bietet für Indiens Wirtschaft nicht nur die Chance, neue Märkte zu erschließen. Die Konkurrenz auf internationalen Märkten würde den Unternehmen des Landes auch helfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
In Indien scheint sich diese Erkenntnis – trotz des Rufs nach einer möglichst eigenständigen Volkswirtschaft unter dem von Modi geprägten Schlagwort "Atmanirbhar Bharat" – zunehmend durchzusetzen: "Indien hat nichts gegen Handelsabkommen mit anderen Ländern, wir verstehen, dass wir global und regional vernetzt sein müssen", sagte Gopal Krishna Agarwal, wirtschaftspolitischer Sprecher von Modis Partei BJP. Freihandel mit Europa begrüßt er ausdrücklich: Er sei überzeugt davon, dass die Freihandelsgespräche mit Europa fortgesetzt werden und sich ein Abkommen für Indien lohnen wird.