Krieg in Europa
Die vergessenen Konflikte Georgiens und der Ukraine-Krieg
Die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien hatten sich nach Bürgerkriegen von Georgien für unabhängig erklärt und werden nur von Russland und einer Handvoll weiterer Staaten anerkannt. Ähnlich wie die von Armenien und Aserbaidschan umkämpfte Region Berg-Karabach und Transnistrien in Moldau gehören sie zu den „eingefrorenen Konflikten“, die - wie die aktuellen Entwicklungen zeigen, sehr schnell wieder „auftauen“ könnten. Der Konflikt-Experte Giorgi Kanashvili beschreibt die georgisch-abchasischen sowie die georgisch-südossetischen Beziehungen in der Vergangenheit und wie sie sich in Zukunft entwickeln könnten.
Die georgische Politik gegenüber Abchasien und Zchinwali/Südossetien vor der Invasion Russlands in die Ukraine
Nach dem Russland-Georgien-Krieg 2008 erkannte Russland die Unabhängigkeit von Abchasien und Zchinwali/Südossetien an und stationierte dort Streitkräfte. Russland übernahm auch die finanzielle Absicherung dieser Regionen. Somit wurde Russland seit 2008 zum Hauptgaranten der Sicherheit und finanziellen Stabilität für Abchasien und Südossetien. 2012 kam es in Georgien zu einem Regierungswechsel. Die Macht übernahm eine Koalitionsregierung unter Führung des Parteienbündnisses „Georgischen Traums“. Politik und Rhetorik des „Georgischen Traums“ gegenüber Russland und den abtrünnigen Gebieten unterscheiden sich deutlich von denen der Vorgänger-Regierung. Zu einer Priorität wurde die Normalisierung der Beziehungen zu Russland erklärt. Parallel dazu plante die neue Regierung einen direkten Dialog mit Abchasien und Südossetien.
In Georgien hoffte man, dass im Falle einer Normalisierung der georgisch-russischen Beziehungen Russland grünes Licht für einen direkten Dialog auch mit Sochumi (Hauptstadt Abchasiens) und Zchinwali geben würde. Es gab allerdings keine nennenswerten Verbesserungen in den georgisch-abchasischen und georgisch-südossetischen Beziehungen. Im Gegenteil, auf die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch Georgien 2014 reagierte Russland mit der Unterzeichnung vergleichbarer Abkommen mit Sochumi und Zchinwali. Dadurch näherten sich die beiden Regionen noch mehr Russland an und entfernten sich noch weiter vom restlichen Georgien.
Weder Sochumi noch Zchinwali zeigten großes Interesse an einem Dialog mit Tbilissi. Dem von diversen georgischen Politikern formulierten Slogan „Alles außer Anerkennung“ folgte eine von Abchasen und Südosseten entwickelte Gegendevise „Nichts außer Anerkennung“. Eine solche Position von Sochumi und Zchinwali war insbesondere vor dem Hintergrund zu erwarten, dass Russland die beiden Regionen finanziell und militärisch weiterhin absicherte. Zwar äußerte in letzter Zeit der neue abchasische de facto Präsident Aslan Bjania Interesse an einem direkten Dialog mit Georgien, jedoch stieß dies jetzt in Tbilissi auf taube Ohren.
Es scheint, dass sich die Beziehungen zwischen Georgien und den beiden abtrünnigen Gebieten auf einem Tiefpunkt befinden. Das einzige Gesprächsformat aller Konfliktparteien, die seit 2008 bestehenden Genfer internationalen Verhandlungen (unter Vorsitz von UN, OSZE und EU), wurde zu einer reinen Formalität und die Gespräche werden oft genug wegen verschiedener Unstimmigkeiten abgebrochen. Mit dem Status quo scheint zwar niemand zufrieden zu sein, aber für radikale Veränderungen ist scheinbar keiner bereit.
Ein Indiz für die Vermutung, dass Georgien die Lösung der Konflikte in Abchasien und Zchinwali/Südossetien nicht militärisch zu lösen beabsichtigt, könnte auch das von Jahr zu Jahr schrumpfende Verteidigungsbudgets von Georgien sein, was das Land in militärischer Hinsicht zu einem der anfälligsten Staaten in der Region macht.
Reaktionen auf den Ukraine-Krieg in Tbilissi, Abchasien und Zchinwali
Tbilissi: Nach den Erfahrungen des Russland-Georgien-Kriegs 2008 sowie den generell angespannten Beziehungen mit Russland reagiert die georgische Bevölkerung auf die Invasion Russlands in die Ukraine mit großer Anteilnahme. Umfragen belegen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung Georgiens die Auffassung vertritt, in der Ukraine werde auch über das Schicksal Georgiens entschieden. Es finden landesweit große Demonstrationen zur Unterstützung und aus Solidarität mit der Ukraine statt. Außerdem werden Hilfsgüter für die Ukraine gesammelt, medizinisches Personal reist nach Polen und in die Ukraine, um Flüchtlingen und Kriegsverwundeten Hilfe zu leisten. Zahlreiche georgische Freiwillige kämpfen an der Seite der ukrainischen Streitkräfte. Diese Initiative hat ihren Ursprung im Jahr 2014, als sich parallel zur Krim-Annexion durch Russland und die kriegerischen Auseinandersetzungen im Donbass georgische Freiwillige dem ukrainischen Militär anschlossen. Es wurde eine sogenannte Georgische Legion gegründet, die sich seitdem aktiv an militärischen Einsätzen beteiligt. Diesmal wird die Anzahl von georgischen Freiwilligen bedeutend höher sein und es kämpfen auch einige in Georgien sehr bekannte Personen wie der ehemalige Verteidigungsminister Irakli Okruashvili, Parlamentsabgeordnete und andere Prominente auf Seiten der Ukrainer.
Die amtierende Regierung Georgiens reagierte auf die Invasion Russlands in die Ukraine äußerst verhalten und moderat. Diese Zurückhaltung hält bis heute an. Der georgische Premierminister und andere hochrangige Vertreter des „Georgischen Traums“ erklärten, Georgien würde sich nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligen. Nach mehrtägigen Diskussionen und Auseinandersetzungen schaffte es das georgische Parlament nicht, sich auf eine gemeinsame Erklärung zur Lage in der Ukraine zu einigen. Der Wunsch der Opposition in der gemeinsamen Erklärung die Aggression Russlands mit angemessener Schärfe zu kritisieren, wurde von der parlamentarischen Mehrheit des „Georgischen Traums“ abgelehnt.
Die Aufforderung eines Abgeordneten des ukrainischen Parlaments „Werchowna Rada“ und später des Sicherheitsratssekretärs, es sei an der Zeit, dass Georgien seine territoriale Integrität mit Gewalt wiederherstelle und damit faktisch eine zweite Front gegen Russland in Georgien eröffne, rief heftige Debatten hervor. Das Misslingen der militärischen Pläne Russlands, Kiew und andere strategisch wichtigen Städte schnell zu erobern sowie die kolossalen militärischen Verluste und die Perspektive einer möglichen Niederlage sorgten bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen für Diskussionen über die Möglichkeit einer militärischen Rückeroberung der Regionen Abchasien und Zchinwali/Südossetien.
Jedoch fanden solche Überlegungen keinen breiten Konsens in der georgischen Gesellschaft. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl die Zivilgesellschaft als auch alle politischen Kräfte homogen zu der Frage stehen, dass es für Georgien nur einen einzigen Weg gibt, die territoriale Integrität wiederherzustellen: die des friedlichen Dialogprozesses. Diese Schlussfolgerung stützt sich auch auf diverse Aussagen von politischen Experten sowie Vertretern der regierenden und auch der oppositionellen politischen Parteien.
Zchinwali und Abchasien: Die Reaktionen in Sochumi und Zchinwali auf die Entwicklungen in der Ukraine unterscheiden sich natürlich von denen in Tbilissi, waren aber doch unterschiedlich. Südossetien erkannte die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk bereits 2014 an. Sochumi hielt sich zurück, sah sich Ende Februar 2022 schließlich mit Rücksicht auf Russland gezwungen, diese ebenfalls als unabhängige Staaten anzuerkennen. In beiden Regionen fanden Demonstrationen zur Unterstützung Russlands statt, die von unter der Kontrolle Russlands stehendenden Regierungen organisiert wurden. Jedoch war die Führung in Sochumi gezwungen, Militärbedienstete und Angestellte der Miliz zu verpflichten, um ein Stadion samt seinen Tribünen mit Menschen zu füllen. Dieses Ereignis sowie einzelne in sozialen und lokalen Medien laufende Diskussionen geben Anlass zu der Vermutung, dass das in Abchasien zu den Entwicklungen in der Ukraine vorherrschende gesellschaftliche Meinungsbild bei Weitem nicht einheitlich ist. Andererseits wäre es naiv zu denken, dass Abchasien Russland – dem einzigen Garanten ihrer Sicherheit – eine Niederlage im Krieg wünschen würde. Ähnliches gilt für die Stimmung in der Bevölkerung in Belarus und Armenien, die eng mit Russlands verbunden sind. Es ist offensichtlich, dass die Aggression Russlands auch unter den Verbündeten keine absolute Unterstützung und Befürwortung genießt.
Ähnlich wie aus Georgien sind auch Freiwillige aus Abchasien und Zchinwali in die Ukraine gereist, die allerdings auf russischer Seite kämpfen. Außerdem hat Russland im Zuge des Krieges in der Ukraine Teile seiner Militärkräfte aus Abchasien und Zchinwali/Südossetien abgezogen. Insbesondere in Südossetien ist dadurch die lokale Bevölkerung stark betroffen, wo viele in den dort ansässigen russischen Militärbasen beschäftigt waren. Folglich sind sie formell wie faktisch Angehörige der Streitkräfte Russlands, mit ihren entsprechenden Rechten und Pflichten. Es ist auch von einigen Hunderten Südosseten die Rede, die sich vermutlich bereits an kriegerischen Handlungen in der Ukraine beteiligen. Die Abberufung von Südosseten in die Ukraine sorgt für wachsende Unzufriedenheit in Zchinwali. Es kann gesagt werden, dass vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs und des Abzugs von Truppen aus Abchasien und Zchinwali/Südossetien die Sorge vor einer möglichen Reaktion Georgiens wächst. Die Machthaber in Sochumi und Zchinwali sind sich nicht sicher, ob Georgien eine militärische Lösung in Erwägung zieht.
Rückeroberung, Verhandlungen oder doch etwas Anderes?
Derzeit sind die weiteren Entwicklungen in der Ukraine schwer abzuschätzen und damit die Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Georgien und den abtrünnigen Gebieten kaum zu prognostizieren. Die Gefahr, dass Georgien mit militärischen Mitteln den Konflikt zu lösen versucht, kann derzeit als gering eingeschätzt werden. Denn auch ein durch den Ukraine-Krieg geschwächtes Russland ist Georgien militärisch weit überlegen. Deshalb ist und wird auch in Zukunft jeder georgische Versuch, die territoriale Einheit mit militärischen Mitteln wiederherzustellen, stets mit einem sehr hohen Risiko verbunden sein. Hinzu kommt auch, dass man sich in Tbilissi darüber bewusst ist, dass auch im Falle der Schwächung des „Faktors Russland“ die in Abchasien und Zchinwali vorherrschenden gesellschaftlichen überwiegend pro-russischen Einstellungen nicht verschwinden. Daher bleibt für die georgische Regierung und die Gesellschaft der langsamere, aber weniger riskante Weg einer friedlichen Lösung prioritär.
Trotz der Volatilität der Lage zeichnen sich doch einige Tendenzen ab, die darauf schließen lassen, dass die moderate Politik Georgiens zu greifbaren und langfristig für alle Beteiligten vorteilhaften Ergebnissen führen könnte. Unabhängig davon, wie der Krieg in der Ukraine ausgehen mag, werden die vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen auf absehbare Zeit bestehen bleiben. Dies wird auch Auswirkungen auf die finanzielle Lage Russlands und somit auch auf die Höhe der finanziellen Zuwendungen an Abchasien und Südossetien haben. Der stellvertretende Wirtschaftsminister Russland hat bei einem Besuch in Sochumi bereits darauf hingewiesen.
Neben den finanziellen Schwierigkeiten werden die Einwohner der Regionen Abchasien und Zchinwali/Südossetien auch vor einer weiteren Herausforderung stehen: War es für sie in der Vergangenheit mit ihren russischen Pässen mit bestimmten Einschränkungen möglich, ins Ausland zu reisen und auch westliche Länder zu besuchen, so wird dies in Zukunft schwieriger. Parallel zu den westlichen Sanktionen verlassen immer mehr internationale Unternehmer Russland und es ist absehbar, dass in Zukunft die Güter des täglichen Lebens und auch technische Geräte entweder kaum oder nur zu unverhältnismäßig hohen Preisen erhältlich sein werden.
Dies ist eine kleine und sicher nicht vollständige Aufzählung von Herausforderungen, die für Abchasen und Südosseten ganz gewiss entstehen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es möglich, dass man in den abtrünnigen Gebieten über Alternativen nachdenkt. Zeigen sich dabei Tbilissi, Sochumi und Zchinwali entsprechend flexibel und strategisch bedacht, so ist die Aufnahme von Verhandlungen über wirtschaftliche Zusammenarbeit, freien Verkehr, Schutz und Sicherung der Rechte für die georgischstämmige Bevölkerung im abchasischen Gali und im südossetischen Akhalgori, Teilnahme von Abchasien und Südossetien an internationalen Bildungsprogrammen, Zugang zur durch die internationalen Organisationen gewährte Entwicklungshilfe usw. nicht auszuschließen.
Abschließend kann man die Prognose wagen, dass sich für Georgien „Gelegenheitsfenster“ öffnen könnte. Jedoch wird auch hier die Bereitschaft von Abchasien und Südossetien zu einem Entgegenkommen von erheblicher Bedeutung sein.