Libanon
Interview zur Wahl von Joseph Aoun zum neuen libanesischen Präsidenten
Der Libanon hat ein neues Staatsoberhaupt: Das Parlament in Beirut wählte gestern Nachmittag in einer teils hitzigen Sitzung den bisherigen Armeechef General Joseph Aoun in der zweiten Wahlrunde mit über 75 % der Stimmen zum Präsidenten des kleinen Mittelmeerstaats. Seit dem Ende der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Michel Aoun im Oktober 2022 – trotz des gleichen Nachnamens gibt es keine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den beiden – war es dem Parlament in zwölf Anläufen nicht gelungen, einen Nachfolger zu bestimmen.
Über die Hintergründe, die Bedeutung und die Aussichten nach dieser Wahl haben wir mit Ralf Erbel gesprochen. Er war von 2008 bis 2014 Projektleiter der Stiftung für Libanon, Jordanien, Syrien und den Irak und leitet heute das Referat für MENA und Subsahara-Afrika.
Herr Erbel, nach Jahren, in denen der Libanon vor allem durch Krisen und Katastrophen in den Schlagzeilen stand, scheint es nun zumindest gelungen zu sein, den politischen Stillstand zu durchbrechen. Wie bewerten Sie die Wahl von Joseph Aoun zum Präsidenten des Libanon?
Die Wahl von Joseph Aoun ist eine gute Nachricht, ein Hoffnungsschimmer für den Libanon und auch für seine internationalen Partner. Nach dem Ende November geschlossenen Waffenstillstandsabkommen ist die heutige Wahl eine weitere Voraussetzung für den Neustart des politischen Prozesses. Als Nächstes muss er nun in Konsultation mit dem Parlament einen mehrheitsfähigen Premierminister ernennen, damit zügig eine kompetente und handlungsfähige Regierung gebildet werden kann.
Aouns gestrige Antrittsrede im Parlament dürfte, so auch mein Urteil am Tag danach, als historisch in die Geschichtsbücher des Landes eingehen. Während in der libanesischen Politik strittige Themen üblicherweise durch vage und nicht belastbare Kompromissformeln entschärft bzw. vertagt werden, schlug er einen anderen Weg ein: Mit einer bemerkenswerten Klarheit, die bei vielen Libanesen sowohl Ungläubigkeit als auch spontane Euphorie auslöste, präsentierte er die politischen Grundprinzipien und Ziele seiner Präsidentschaft. Diese reichen vom Gewaltmonopol des Staates über die freie Marktwirtschaft und die Unabhängigkeit der Justiz bis hin zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Landes.
Dass es nach zwölf gescheiterten Wahlversuchen seit Oktober 2022 nun endlich gelungen ist, einen Präsidenten zu bestimmen, ist vor allem auf einen veränderten nationalen und regionalen Kontext zurückzuführen: der verheerende Krieg zwischen Israel und der Hisbollah, der Sturz des Assad-Regimes in Syrien und der große internationale Druck. Hier sind vor allem die USA zu nennen, aber auch die intensive Diplomatie Frankreichs und einflussreicher Golfstaaten. Um den Wiederaufbau des Landes und die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, braucht der Libanon internationale Partner und Unterstützung.
In dem tief gespaltenen Land kommt Joseph Aoun nicht aus der Politik, sondern aus dem Militär, wo er einen Ruf der Integrität genießt. Als Armee-Chef pflegte er gute Beziehungen zu den USA, die seit Jahren die libanesischen Streitkräfte mit Militärhilfe unterstützen.
Aoun wurde heute als Kompromisskandidat Präsident eines Landes im Ausnahmezustand: Weite Teile des Südlibanons, der Bekaa-Ebene und der südlichen Vororte Beiruts sind verwüstet. Die Umsetzung der erforderlichen Schritte im Rahmen des zeitlich befristeten Waffenstillstandsabkommens drängt. Dass Aoun selber aus dem Südlibanon stammt, dürfte für sein Verständnis der Lage vor Ort förderlich sein.
Der Wahlprozess selbst erwies sich als aufschlussreich. Während Aoun in der ersten Wahlrunde die erforderliche Zweidrittelmehrheit noch verfehlte, konnte er diese in der zweiten Runde schließlich erreichen – nun auch mit den Stimmen der schiitischen Parteien Hisbollah und Amal-Bewegung, die ihm in der ersten Wahlrunde ihre Stimmen noch verweigert hatten. Medienberichten zufolge erklärte der Hisbollah-Abgeordnete Mohammad Raad, beide Parteien hätten sich zu diesem Schritt entschlossen, um den „nationalen Konsens“ zu sichern.
Ein bisheriger Armeechef als Präsident – birgt das nicht die Gefahr einer übermäßigen Einmischung des Militärs in die Politik?
Ihre Skepsis ist grundsätzlich berechtigt, wenn man die Erfahrungen anderer Länder bedenkt, die unter Militärdiktaturen oder repressiven Polizeistaaten gelitten haben. Doch im Fall des Libanon sehe ich diese Gefahr derzeit nicht.
Die libanesische Armee genießt in der Bevölkerung – als eine der wenigen nationalen Institutionen – großen Rückhalt. Sie hat in den vergangenen Jahren in vielen Krisen stabilisierend gewirkt und genießt traditionell großes Vertrauen, auch weil sie als überkonfessionelle Institution wahrgenommen wird. Ihre Stärkung ist von strategischer Bedeutung, möglicherweise sogar eine Grundvoraussetzung, um in einem nationalen Dialog die Hisbollah-Miliz zu entwaffnen und das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen.
Joseph Aoun ist übrigens nicht der erste libanesische Präsident aus dem Militär. Mehrere seiner Amtsvorgänger haben es ihm vorgemacht. Dabei verbietet die libanesische Verfassung eigentlich (Artikel 49) den nahtlosen Wechsel von der Militär- zur Staatsspitze. Um dieses Verbot zu umgehen, benötigte Aoun auch im 2. Wahlgang eine 2/3-Mehrheit. Dennoch: Die Ausnahmen, sie sollten nicht zur Regel werden.
Welche Rolle spielt der Präsident im Libanon? Welche Machtbefugnisse hat er?
Bezüglich der Rolle des Präsidenten klafft im Libanon eine erstaunliche Lücke zwischen der (überhöhten) öffentlichen Wahrnehmung des Amts einerseits und seiner tatsächlichen verfassungsrechtlichen Machtbefugnisse. Womöglich liegt die Erklärung für dieses Phänomen darin, dass der Libanon bis zur Verfassungsänderung im Zuge des Friedensvertrags am Ende des Bürgerkriegs 1989/1990 eine Präsidialrepublik war.
Heute hat der Staatspräsident überwiegend repräsentative und moderierende Aufgaben, während die exekutive Macht primär beim Premierminister und dessen Kabinett liegt. Dennoch ist das Präsidialamt ein gewichtiges: In dem multireligiösen Land hat der Präsident die komplexe Rolle, die fragile Balance zwischen den Konfessionen aufrechtzuerhalten und den politischen Konsens zu fördern. Seine Amtszeit ist auf ein Mandat von 6-Jahren begrenzt.
Eine Besonderheit des libanesischen Systems ist die konfessionelle Machtverteilung: Gemäß dem Nationalpakt von 1943 ist der Präsident stets ein maronitischer Christ, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim. Vor allem für die christliche Gemeinschaft hat das Präsidentenamt einen hohen historischen Stellenwert und wird oftmals als Garant ihrer Rolle im Libanon wahrgenommen.
Wie geht es für den Libanon nun weiter? Was kann Deutschland tun?
Der Libanon steht an einem entscheidenden Wendepunkt und hat eine historische Chance, nach den Katastrophen und Krisen der Vergangenheit die Weichen für eine bessere Zukunft zu stellen. Präsident Joseph Aoun hat in seiner Antrittsrede in zentralen strategischen Fragen eine neue Richtung eingeschlagen und eine neue Phase in der Geschichte des Landes ausgerufen. Bemerkenswert ist vor allem seine Ansage, dass der Libanon künftig eine Politik der positiven Neutralität verfolgen und er das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen werde. Den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges mit Israel erklärte er zur staatlichen Aufgabe.
Deutschland und Europa sollten diese historische Chance nutzen, um den Libanon dabei zu unterstützen, den Übergang in eine bessere Zukunft erfolgreich zu meistern. Die nächsten Monate sind hierbei entscheidend. Internationale Unterstützung muss schnell und effektiv erfolgen, um das Zeitfenster für positive Veränderungen zu nutzen, das Narrativ des unfähigen Staates zu entkräften und den Libanon aus der Spirale von Konflikt und Instabilität zu befreien.