Vorgezogene Parlamentswahl in Armenien
Von der „samtenen“ zur „stählernen“ Revolution
Ein eindeutiges Ergebnis, das viele politische Beobachter überrascht hat: Bei den vorgezogenen Wahlen zum armenischen Parlament wurde die Partei von Nikol Paschinjan nach den bisher vorliegenden Zahlen mit knapp 54 Prozent überzeugend stärkste Kraft. In mehreren Vorwahl-Umfragen war der Abstand seiner Partei „Civil Contract“ zum zweitplatzierten Bündnis „Armenia“ um den ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan knapper ausgewiesen worden. Doch es kam anders.
„Das armenische Volk hat uns das Mandat gegeben, das Land zu führen, mit mir persönlich als Premierminister“, verkündete Nikol Paschinjan bereits am Sonntagabend. Er gehe davon aus, dass seine Partei einen „Erdrutschsieg“ errungen habe: „Wir wissen bereits, dass wir eine überzeugende Mehrheit im Parlament haben werden", sagte Paschinjan Medienberichten zufolge. Nur kurze Zeit später vermeldete das zweitplatzierte Bündnis des ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan, dass sie Zweifel am Wahlergebnis hätten: „Es gibt viele Hinweise aus den Wahllokalen auf eine organisierte und geplante Fälschung der Wahlergebnisse, und es gibt schwerwiegende Gründe für Zweifel an den Ergebnissen der Wahlen", hieß es in einer Stellungnahme des Wahlblocks „Armenia“. Die Ergebnisse würden erst anerkannt, wenn diese Verstöße untersucht sind.
2,6 Millionen Wahlberechtigte hatten die Wahl zwischen 21 Parteien und vier Wahlblöcken, eine Vielfalt, die es so noch nicht gab in Armenien. Die Wahlschwelle lag bei fünf Prozent für Parteien und sieben Prozent für Wahlblöcke. Die bisher vorliegenden Ergebnisse ergeben folgendes Bild: „Civil Contract“, Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Paschinjan – 53,92 Prozent, Block „Armenia“ unter Führung des ehemaligen Präsidenten Kotscharjan – 21,04 Prozent. Mit 5,23 Prozent wird wohl auch der Wahlblock „I have the Honor“ im Parlament vertreten sein, obwohl die Schwelle für Blöcke bei sieben Prozent liegt, jedoch mindestens drei politische Kräfte im Parlament vertreten sein müssen. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 50 Prozent. Die Partnerparteien der Stiftung für die Freiheit „Armenian National Congress“ (1,54 Prozent) und „Bright Armenia Party“ (1,22 Prozent) scheiterten an der 5-Prozent-Hürde.
Der Vorsitzende der liberalen Partei „Bright Armenia“ kommentierte das Wahlergebnis so: „Leider müssen wir die Ergebnisse der Wahlen und die Vision der Mehrheit der Gesellschaft anerkennen. Die Wahlergebnisse spiegeln die radikale und gleichzeitig festgefahrene Atmosphäre des Staates wider. Die Teilnahme der alten Eliten an den Wahlen, der Diskurs der gegenseitigen Zerstörung hat zwei Pole etabliert – ‚Pro-Regierung‘ und ‚Anti-Regierung‘ und damit den Willen zur gesamtarmenischen Solidarität, zur Überwindung der Herausforderungen der territorialen Souveränität und der nationalen Sicherheit sowie einer nach dem Krieg entstandenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise zurückgewiesen. Dies wird jedoch nicht das ‚politische Ende‘ für unsere Partei sein. Wir werden von den Ergebnissen profitieren und so als außerparlamentarische Opposition die Verantwortung für die Stabilisierung des Landes übernehmen. Es wird ein Neustart für die Partei sein, um die Neuordnung und Modernisierung der Parteipolitik unter verschiedenen Aspekten anzustoßen. Dennoch wird unsere Partei den liberalen Werten, ihrer klaren Mission und ihrer konstruktiven öffentlichen Politik treu bleiben.“
Beleidigungen, Bedrohungen, Hassreden
Der Wahlkampf war gekennzeichnet von Beleidigungen, Bedrohungen und Hassreden auf allen Seiten, was Staatspräsident Armen Sarkissjan veranlasste, zu einer friedlichen Wahl aufzurufen. Es sei nicht akzeptabel, dass politische und moralische Grenzen überschritten werden und durch eine Eskalation der Lage Hass und Feindschaft geschürt würden, so Sarkissjan.
Auch die gemeinsame internationale Wahlbeobachtermission (bestehend aus OZCE Office for Democratic Institutions and Human Rights - ODIHR, OSCE Parliamentary Assembly - OSCE PA, Parliamentary Assembly of the Council of Europe - PACE) bemängelte in einer gemeinsamen Erklärung vom Montag die Polarisierung und den von aggressiver Rhetorik getrübten Verlauf der Wahlen, bescheinigte aber insgesamt, dass sie frei und fair und innerhalb kurzer Zeit gut organisiert waren. „Trotz der begrenzten Zeit für die Umsetzung der jüngsten Änderungen des Wahlgesetzes wurde die Durchführung der Wahlen von der Mehrheit unserer Beobachter positiv bewertet“, sagte Margareta Cederfelt, Sonderkoordinatorin und Leiterin des OSZE-Kurzzeitbeobachters Mission. „Auch die meisten unserer Beobachter haben den Wahltag positiv bewertet, bis hin zur Stimmenauszählung.“ Die Beobachter stellten fest, Fragen der nationalen Sicherheit hätten den politischen Diskurs in der Vor- und Wahlkampfzeit dominiert. Die Debatte sei von immer aggressiveren Äußerungen und Anschuldigungen begleitet gewesen, die den hohen Grad der Polarisierung verschärften und die Aufmerksamkeit für politische Programme und Politik weiter verringerten. Der Wahltag selbst sei im Allgemeinen friedlich verlaufen, und den Wahlprozess in den besuchten Wahllokalen beurteilten die Beobachter überwiegend positiv. Die internationale Wahlbeobachtungsmission umfasste insgesamt 341 Beobachter aus 37 Ländern.
Vom Volk mit einem „Stahlmandat“ ausgestattet
Auf der Abschlusskundgebung seiner Partei am 17. Juni kündigte Paschinjan vor tausenden Anhängern auf dem zentralen Platz der Republik im Zentrum der armenischen Hauptstadt an, dass die „samtene“ Revolution bei einem Sieg durch eine „stählerne“ abgelöst wird. Genau einen Tag später benannte an gleicher Stelle ebenfalls vor tausenden Anhängern Herausforderer Robert Kotscharjan auf einer Wahlveranstaltung seines Wahlblocks „Armenia“ die vier Hauptprobleme des Landes: Schutz und Sicherheit der Grenzen Armeniens, die Zukunft von Berg-Karabach, Wirtschaftskrise, innenpolitische Spannungen. Die derzeitige Regierung sei nicht in der Lage, diese Probleme zu lösen, weil sie sie selbst geschaffen habe, so der Ex-Präsident.
Am Wahlabend sah sich Paschinjan nach den ersten Ergebnissen bestätigt: „2018 haben wir eine Samtene Revolution durchgeführt, und jetzt hat uns das Volk ein ‚stählernes Mandat‘ gegeben, was bedeutet, dass wir zu einer stählernen Revolution übergehen.“
Nikol Paschinjan war am 25. April zurückgetreten und hat damit den Weg für vorgezogene Neuwahlen freigemacht. Er blieb jedoch geschäftsführend im Amt. Dem vorangegangen war eine tiefe innenpolitische Krise nach dem Krieg mit Aserbaidschan um Nagorny Karabach. Teile der Bevölkerung gaben ihm die Schuld an der Niederlage und den damit verbundenen Gebietsverlusten und forderten auf großen, zum Teil gewalttätigen Protestdemonstrationen seinen Rücktritt.
Für die nächsten Tage haben Oppositionsparteien und Regierungspartei zu Kundgebungen aufgerufen. Am Montag kündigte der Wahlblock „Armenia“ an, das Wahlergebnis wegen des Verdachts einer „systematischen und geplanten Fälschung der Wahlergebnisse“ vor dem Verfassungsgericht anfechten zu wollen. Die nächsten Tage werden entscheidend sein für das Land. Selten war die Stimmung im Land so aufgeheizt, so dass einige Beobachter auch Unruhen für möglich halten. Am Montagabend hat Paschinjan zur Versöhnung aufgerufen. Die Verbitterung müsse ein Ende haben, sagte er auf einer Sieges-Kundgebung in Eriwan, auf deren Abschluss er
eine Plakette überreicht bekam, die sein jetzt „stählernes“ Mandat symbolisieren soll.
Trotz aller Unzufriedenheit und Enttäuschung wegen des verlorenen Krieges - Nikol Pasachinjan hat eine weitere Chance bekommen, wahrscheinlich eine letzte. Sein Wahlsieg ist sicher nicht unbedingt seinen Erfolgen geschuldet, sondern vielmehr der Angst vieler Armenier vor einer Rückkehr von Vertretern des alten Regimes an die Macht. Der gefährliche Nationalismus, der sich vor einigen Monaten nach der Niederlage gegen Aserbaidschan in Teilen der Bevölkerung zu entwickeln drohte, stand bei dieser Wahl auch dem Wunsch nach Fortsetzung des eingeschlagenen Weges der Veränderungen nach der Samtenen Revolution entgegen. Das „Stahlmandat“ mit dem sich Paschinjan jetzt ausgestattet sieht, ist daher weniger als eine Abstimmung für seine Politik, sondern vielmehr eine Ablehnung der Politik seines stärksten Herausforderers zu sehen. Viele Armenier werden sich an die autoritäre und korrupte Herrschaft von Kotscharjan erinnert haben, und insgesamt an die verhasste alte politische Machtelite, welche durch die Samtene Revolution entmachtet wurde. Nikol Paschinjan muss es jetzt gelingen, die stark polarisierte Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Es bleibt zu hoffen, dass die von Hassreden bestimmte Rhetorik des Wahlkampfes ein Ende hat und sich bald alle im künftigen Parlament vertretenden politischen Akteure gemeinsam um die Bewältigung der großen Herausforderungen des Landes kümmern. Allein die Neuwahlen haben die Krise des Landes noch lange nicht beendet.
Peter-Andreas Bochmann PL FNF Südkaukasus
Götz-Martin Rosin, freier Journalist