Demokratie in Thailand
Aktivistinnen und Aktivisten benötigen Ausdauer
Die Welt blickte auf Thailand: Zehntausende forderten im Jahr 2020 demokratische Reformen – fast schien es so, als würde das Establishment des Landes wackeln. Doch rund anderthalb Jahre später ist klar: Die Demokratiebewegung ist noch weit entfernt von ihren Zielen. Eine bekannte Aktivistin und ein bekannter Aktivist waren nun Sprecher eines Panels der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und ihres Partners, dem zur Chulalongkorn Universtität gehörenden Think Tank ISIS (Institute of Security and International Studies). Pannika Wanich und Bunkueanun „Francis“ Paothong räumten ein, dass die Bewegung an Schwung verloren hat und dass es auch nach den kommenden Wahlen schwierig wird, eine wirklich progressivere und demokratischere Regierung in Thailand zu bilden. Aufgeben wollten sie aber nicht. Beide hatten zentrale Rollen in der Protestbewegung. Pannika war Sprecherin der Future Forward Partei. Diese konnte bei den jüngsten Wahlen einen Überraschungserfolg feiern und erreichte aus dem Stand fast 18 Prozent aller Stimmen. Anfang 2020 löste das Verfassungsgericht die Partei auf, Beobachter bezeichneten das Urteil als politisch motiviert. Pannika, die zusätzlich vom Gericht angeordnet, 10 Jahre lang nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren darf, engagiert sich inzwischen in der Führung der Organisation „Progressive Movement“. Die Organisation ist mit der Nachfolgepartei Move Forward eng verbunden.
Bunkueanun „Francis“ Paothong ist einer der bekanntesten Studentenaktivisten des Landes. Er ist wegen Sektion 110 des thailändischen Strafgesetzes angeklagt, der Bedrohung oder versuchten Bedrohung der Königin oder ihrer Freiheit. Das Delikt soll er begangen haben, als der Konvoi der Königin an ihm vorbeifuhr. Auf einem Video ist zu sehen, wie Polizisten Demonstrierende von den Fahrzeugen zurückdrängen – die Situation sieht jedoch kaum bedrohlich aus. Bei einer Verurteilung droht ihm lebenslänglich Haft. Wie er auf der Veranstaltung mitteilte, erwarte er das Urteil im Herbst.
Die Proteste hatten im Herbst 2020 ihren Höhepunkt erreicht. Damals versammelten sich Zehntausende auf der Straße. Ihre Forderung: Einen Rücktritt der Regierung, Neuwahlen und eine Verfassungsänderung – später brachen sie auch das Tabu, die Rolle des mächtigen Königshauses zu hinterfragen. Doch dann verlor die Bewegung das Momentum.
Ruhig ist die politische Lage in Thailand dennoch nicht – immer wieder gibt es Spekulationen um vorgezogene Neuwahlen. Die Regierungskoalition von Premierminister Prayut Chan-o-cha, der durch den Militärputsch von 2014 an die Macht kam und sich 2019 per Wahlen legitimeren ließ, bröckelt. Egal, wann die nächste Wahl ist – viele sind gespannt darauf, wie sich die vielen jungen Erstwählerinnen und Erstwähler, darunter viele der ehemaligen Demonstrierenden, an der Urne entscheiden werden.
Laut Studenten-Aktivist Bunkueanun befindet sich die Jugendbewegung derzeit in einer Art Erholungsphase. Die ist keinesfalls freiwillig: Wie gegen Bunkueanun geht die Regierung gegen zahlreiche weitere Köpfe der Bewegung juristisch vor. Beispielsweise eröffnete sie laut der NGO Thai Lawyers for Human Rights gegen 169 Personen Verfahren unter dem strengen Majestätsbeleidigungs- oder auch „Lese-Majeste“ Gesetz ein. Vielen Aktivistinnen und Aktivisten drohen damit jahrzehntelange Haftstrafen.
Viele der jungen Menschen müssten sich auch wieder um ihren „Day job“ kümmern, also für die Uni oder die Schule lernen, sagte Bunkueanun. Ihm persönlich sei die Energie ausgegangen. „Diese Proteste über so eine lange Zeit, mit so viel Energie zu vollziehen, [...] ist nicht nachhaltig“, erklärt er. Er meint: „wenn du eine Demokratie [...] möchtest, [...] die langanhaltend, sogar ewig, ist, [...] musst du im Kleinen beginnen“.
Er selbst gehe nun vorsichtiger vor, beispielsweise im Rahmen seiner Position als frisch gewählter Präsident des Studierendenrates an der Mahidol Universität. Er könne nicht für alle sprechen, aber er würde die Situation der Bewegung als „Down but not out“ bezeichnen - also „am Boden, aber nicht K.O.“.
Spätestens bei der nächsten Wahl wird sich zeigen, wie entschlossen diese jungen, demokratiehungrigen Menschen wirklich sind. Bunkueanun rechnet damit, dass viele junge Wählerinnen und Wähler für die Move Forward oder Pheu Thai Partei stimmen, die Partei der 2014 gestürzten Regierung. Beide Parteien werden oft als das pro-demokratische Lager bezeichnet.
Ob die jungen Menschen an der Urne eine demokratische Wende erreichen können, ist aber fraglich. Die ehemalige Future Forward-Abgeordnete Pannika ist skeptisch: Regierungschef Prayut sei zwar unter Druck. Doch sei ein baldiger Wechsel weg von der konservativen und hin zur progressiveren Seite eher unwahrscheinlich. „Die Verfassung schützt eher Prayuts Lager“, sagte Pannika. Prayut hatte nach seinem Putsch 2014 eine neue Verfassung ausarbeiten lassen, die dem Militär weitreichenden Einfluss bei der Wahl des Regierungschefs gibt.
Auch wenn es vielleicht nicht für einen Machtwechsel reicht - für die ihr nahestehende Move Forward Partei rechnet sie mit einem guten Ergebnis. Die Auflösung der Future Forward Partei habe die Move Forward Partei in der Nachfolge sogar stärker gemacht: Neue Parteistrukturen, mehr Erfahrung in ländlichen Gebieten – all dies sei sogar nur dank der Auflösung der Vorgängerpartei möglich geworden. Und wenn die Move Forward Partei auch aufgelöst werden sollte, dann würden sie und ihre Mitstreiter einfach wieder eine neue Partei gründen.
Chancen sieht sie insbesondere bei der Gouverneurswahl in Bangkok – diese soll laut der Bangkok Post Ende Mai 2022 stattfinden. Die Hauptstadt Thailands gilt als eine Hochburg junger und progressiver Menschen. Ein potenzieller Wahlerfolg der progressiven Parteien könnte ihnen Rückenwind für die Parlamentswahl bescheren.
Ein weiteres wichtiges Ereignis, so Pannika, könne die Generaldebatte sein, die womöglich auch diesen Mai stattfinden wird. Es könnte zu einem Misstrauensvotum gegen Prayut Chan-o-cha kommen – und der könne nicht sicher sein, die Abstimmung zu gewinnen.
Chaturon Chaisang, ehemaliger stellvertretender Premierminister und vor dem Militärputsch 2014 Bildungsminister, sieht als Grund für die schwierige Situation der Regierung vor allem die schlechte Wirtschaftslage. Im vergangenen Jahr dürfte Thailands Wirtschaftsleistung laut Weltbank wohl nur um ein Prozent zugelegt haben. 2020 war sie um rund sechs Prozent eingebrochen. Die Regierung habe die Corona-Pandemie zwar effektiv bekämpft, sagt Chaturon. Doch die daraus resultierende angespannte Wirtschaftslage führe zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
In einer normalen Demokratie würden schlechte Regierungen abgewählt, sagte Chaturon. Doch wie Pannika ist auch er skeptisch, dass dies in Thailand passieren wird. Als Grund nennt Chaturon den starken Senat, dessen Mitglieder von der Junta-Regierung bestimmt wurden und der durch die aktuell gültige Verfassung ein starkes Mitspracherecht bei der Wahl des Regierungschefs hat. Eine Regierungskoalition aus sogenannten prodemokratischen Parteien benötigt im Unterhaus deswegen deutlich mehr Sitze als nur die absolute Mehrheit, um ihren Kandidaten zum Premierminister zu wählen.
Ob es eine prodemokratische Mehrheit geben kann, wird auch von den Koalitionsplänen der Parteien abhängen, beispielsweise der Democrat Party. Auf der ISIS-Veranstaltung wollte sich Prinn Panitchpakdi, der stellvertretende Vorsitzende der Democrat Party, nicht festlegen. Dabei kommt seiner Partei womöglich wieder eine Schlüsselrolle zu. Nach der letzten Wahl entschied sich die Partei, die älteste demokratische in Thailand, zu einer Koalition mit der militärnahen Palang Pracharath Partei – und verhalf somit dem Putschisten Prayut zur Legitimation seiner Macht.
Prinn sagte zwar auch, dass seine Partei die starke Rolle des von der Junta-Regierung bestimmten Senats bei der Wahl des Regierungschefs ablehnt. Ein Bekenntnis welcher Koalition sie beitreten würden, könne er aber nicht geben. Erst „wenn die Wählerstimmen eintreffen, kann die wirkliche Entscheidung getroffen werden“, sagte er.
Auf die Frage, wie der Politiker der Democrat Party zu den Verfahren gegen die jungen Aktivistinnen und Aktivisten steht, gab er keine klare Antwort. Einerseits fände er es toll, wenn junge Menschen protestieren und sich engagieren. Zudem sagte er, dass thailändische Institutionen, wie beispielsweise Gerichte, transparenter arbeiten müssten. Eindeutige Kritik an den Verfahren äußerte er aber nicht.
Dass seine Partei mit diesen Positionen viele junge Menschen überzeugen können wird, ist eher fraglich. Und von genau diesen jungen Menschen könnte die Zukunft der thailändischen Demokratie abhängen.
Leon Wiedenhöfer studiert Politikwissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und absolviert ein Praktikum bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Bangkok.