Türkei
Galoppierende Inflation in der Türkei – Druck auf Erdogan steigt
Unbezahlbar: In der Türkei treiben hohe Verbraucherkosten Millionen Menschen finanziell in die Enge. Experten warnen nun vor einem Zusammenbruch der Wirtschaft. Dies könnte sich auch auf die nächsten Wahlen im Juni 2023 auswirken und die Chancen von Präsident Erdogan.
Laut offiziellen Zahlen beträgt die Inflation in der Türkei inzwischen 69,97 Prozent und hat sich damit im letzten halben Jahr verdreifacht. Die unabhängige Inflation Research Group sieht sie gar bei über 156 Prozent – ein Wert, den jedermann angesichts seines Wocheneinkaufs bestätigen kann.
Ein Ende des Preisanstiegs ist nicht in Sicht, und er trifft die Bevölkerung hart, bis weit in die Mittelschichten hinein. Grundlegende Lebensmittel sind plötzlich dreimal so teuer wie noch vor wenigen Monaten, Kaffee, Fleisch oder Gemüse werden zu Luxuswaren, auf die viele Familien bereits verzichten. Auf den Speisekarten der Restaurants sind die Preise in den vergangenen Wochen mehrfach überklebt worden. Menschen verzichten auf das Kaufen von Trinkwasser und trinken etwa das stark gechlorte Istanbuler Leitungswasser. Familienbesuche zu den Feiertagen am Ende des Ramadans waren für viele in diesem Jahr nicht zu realisieren.
Türkei: Steigende Preise treffen die Menschen in vielen Lebensbereichen
Neben den Preisen für Lebensmittel, Kleidung, Benzin oder Energie explodieren auch die Mieten. Viele Menschen klagen, dass ihnen gekündigt und dann die Wohnung für den doppelten Preis wieder angeboten wird. Oft bleibt ihnen angesichts der allgemeinen Marktlage keine andere Wahl, als dieses Angebot anzunehmen. Der Kauf einer Wohnung oder eines Autos – eigentlich ein üblicher Meilenstein für junge Familien in der Türkei – rückt in weite Ferne. Selbst der Weg zur Arbeit wird angesichts der Kosten für Benzin oder öffentlichen Nahverkehr zum Problem. Privatkredite dagegen haben Konjunktur.
Die Stimmung im Land ist angespannt und pessimistisch, denn selten hat das Land einen derartigen Preisanstieg erlebt. Er kommt in einer Zeit, in der viele Menschen bereits auf die nächsten Wahlen schauen, die regulär im Juni 2023 stattfinden sollen. Die politische Landschaft ist sichtbar schon im Wahlkampfmodus, diverse Schlagabtausche – vielfach ausgetragen in den sozialen Medien – bestimmen die Agenda.
Ein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien verhandelt ein gemeinsames Vorgehen, um die Ära Erdogan zu beenden und die Türkei wieder in ein parlamentarisches System zu überführen. Ein einfaches Unterfangen wird dies angesichts der sehr unterschiedlichen Wählerschaften der Oppositionsparteien nicht werden.
Auch Erdogans Finanzpolitik führte zu der schlechten Wirtschaftslage
Klar ist jedoch, dass die Wirtschaftslage und ihre konkreten Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Menschen eine wesentliche Rolle im Wahlkampf spielen wird. Der Präsident mit seiner noch gut gefüllten Staatskasse hat hier einen Vorteil, denn er kann mit Wahlgeschenken sicher die eine oder andere Not lindern und dies als erfolgreiche Politik verkaufen.
Dabei verstehen die meisten Menschen, dass die Ursache der Misere nicht allein in äußeren Faktoren wie dem russischen Krieg gegen die Ukraine und den daraus folgenden hohen Ölpreisen liegt. Wenngleich diese eine verschärfende Rolle spielen, hat die Krise bereits im Herbst 2021 mit der unorthodoxen Finanzpolitik Recep Tayyip Erdogans begonnen.
Entgegen allen finanzpolitischen Erkenntnissen und Erfahrungen ließ der Präsident die Zinsen der Zentralbank in mehreren Schritten von 19 auf 14 Prozent senken und löste damit einen rasanten Verfall der Türkischen Lira aus. Erdogan bestand darauf, dass die Zinssenkung die Inflation bremsen werde, doch wenig überraschend trat das genaue Gegenteil ein.
Wirtschaftszusammenbruch nicht ausgeschlossen: Türkische Unternehmen sind in Gefahr
Minister der regierenden AKP rufen die Bevölkerung inzwischen zu Geduld und Vertrauen auf und versichern, man werde das Problem in den Griff bekommen. Ernsthafte Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung sind indes nicht zu erkennen.
Experten erwarten denn auch, dass die mangelnde Kaufkraft in Kürze auf den Unternehmenssektor durchschlägt und insbesondere kleinen und mittlere Unternehmen in Schieflage bringt. Ein Zusammenbruch der Wirtschaft in den nächsten Monaten kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Für eine Vorwahlzeit, in der es für die schwer polarisierte Türkei um alles geht, sind dies besorgniserregende Aussichten.
Dieser Text erschien erstmalig am 12.05.2022 bei Focus Online.