Journalismus
Historisches Damlacık: Ein Verbrechen an der Stadt ohne Täter
Autor: Sercan Engerek
Die Zukunft des Bezirks Damlacık im Stadtgebiet Izmir, innerhalb des archäologischen Schutzgebiets dritten Grades, bleibt ungewiss. Acht Jahre nach der ersten Enteignung im Bezirk hieß es in der Stellungnahme des Straßenbauamts, weder der Auftragnehmer noch die Verwaltung seien zu bemängeln. Das Tunnelprojekt von Konak, das die Zerstörung veranlasste, fällt unter Verbrechen an der Stadt.
Eine steile Straße, befahren von aus Eşrefpaşa und Altıntaş kommenden Fahrzeugen, die den dichten Verkehr in Varyant vermeiden wollen und genutzt von Fußgängern als Abkürzung nach Kemeraltı. Auf einer Straßenseite der Sportclub, der den Fußballer Metin Oktay, den „König ohne Krone“ groß machte, etwas weiter die Bäckerei, die man von ganz weitem riecht. Auf einer der Parallelstraßen liegt das Grabmal von „Tezveren Dede“, vor dem die Menschen tagtäglich Kerzen anzünden, damit ihre Wünsche erfüllt werden. Das ist der erste Eindruck, den Damlacık, einer der ältesten Bezirke von Izmir, bei vorbeigehenden Passanten hinterlässt.
Der Name Damlacık (dt: Tröpfchen, Anm. d. Übersetzerin) ist auf die Tabakarbeiter in Konak zurückzuführen. Wenn sie Abend für Abend auf dem Weg nach Hause den steilen Hang erklommen, tropfte ihnen der Schweiß von der Stirn. Der Geschichtsforscher Yaşar Ürük hingegen schreibt, dass das Markenzeichen des Bezirks der „Mal-Bach“ oder „Santa Veneranda“-Bach war und der Name „Damlacık“ daher stammen könnte.
Die Nordgrenze von Damlacık grenzt an die Seidenstraße, die auf das antike Rom zurückgeht. Der Bach fließt hin und wieder, die Brunnen stehen noch, auch wenn sie nicht mehr tropfen. Die Moschee aus dem 18. Jahrhundert konnte im letzten Moment vom Abriss bewahrt werden, der Asklepion-Tempel, der unter der Moschee vermutet wird, wartet darauf, archäologisch geforscht zu werden, die gepflasterten Gassen sind immer noch da. Wenn Sie aber in den letzten Jahren von Konak aus auf Varyant schauen, haben Sie das Gefühl, die jahrhundertelange Geschichte wäre nicht gewesen, es hätte nie einen Stadtteil namens Damlacık mit seinen Menschen und seiner Kultur gegeben.
„Wir hatten ein Haus namens „Bereket Apartmanı“. Auch wenn ich es „Apartman“ nenne, war es ein zweistöckiges Haus bestehend aus zwei oder drei Blöcken, mit einem großen Hof, dessen Decke der Himmel war. In einer Ecke kletterte der Efeu in den Himmel. Im Erdgeschoss das Lebensmittelgeschäft von Yılmaz. In einer kleinen Werkstatt auf der anderen Seite arbeiteten Stickerinnen. Zu dieser Zeit wurde Kerosin noch in Lebensmittelgeschäften verkauft. Vor den Läden standen große Kanister. Aus fast allen Lebensmittelgeschäften verbreitete sich der Kerosingeruch. Und der Geruch von offenem Wein.“
Mit diesen Worten erinnert sich die Schriftstellerin Ayşe Kilimci an Damlacık, wo sie zwischen 1954 und 1961 lebte. In der Nachbarschaft, in der sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr lebte, stehen heute nur mehr zwei Häuser: das Ethnographische Museum am Ende von Varyant und das Haus, in dem heute die Gesundheitsdirektion der Provinz untergebracht ist – über mehrere Jahre als das Heimatkrankenhaus bekannt.
Kilimci, deren Mutter Krankenschwester war, kam in diesem zweistöckigen Haus hinter dem Krankenhaus auf die Welt. Hier lernte sie ihre ersten Freundinnen kennen, wurde eingeschult und spielte auf den Straßen von Damlacık.
Ihre berufliche Laufbahn als Sozialarbeiterin verbrachte Kilimci in Städten wie Ankara und Istanbul und ließ sich nach der Pensionierung in Ayvalık nieder. Doch kann sie den Beginn ihrer Lebensreise in Izmir nicht vergessen. Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht erzählt sie von ihrer Kindheit:
„Einmal verließ ich heimlich das Haus und lief zu Freunden der Familie im Dorf Çamlık. Ich erinnere mich, dass sie in ihrem riesigen Garten Mehl gesiebt haben. Das faszinierte mich. Gut, dass ich dort hängenblieb, man hätte mich nämlich nicht gefunden, wenn ich mich noch weiter entfernt hätte. Die Stimme der Nachbarin hallt noch in meinen Ohren: „Ojemine, das Kind ist weggelaufen.“ Sie übergaben mich an meine Großmutter, die verzweifelt nach mir suchte. Wenn ich heute an diese Zeiten denke, kommen sie mir wie ein Film vor. Ein Bezirkskino. Unabhängig davon, ob als Protagonistin oder Statistin, alle haben mitgespielt. Jahre später wurde mir klar: Auch wenn die Häuser abgerissen wurden, lebt Damlacık mit seinen Menschen, Geräuschen und Gerüchen immer noch in mir.“
Was macht eine Nachbarschaft zur Nachbarschaft außer Menschen, Liebschaften und Erinnerungen? Obwohl sie damals noch ein Kind war, erinnert sich Kilimci an die Nachbarinnen als bunte, freundliche Menschen, die sie geprägt haben. Sie erzählt etwa vom „Brautmädchen“. Sie war Schneiderin und heiratete einen jungen Mann, der in der Nalıncılar-Straße arbeitete.
„Sie war ein sehr schönes Mädchen; ihre Augen, ihre Augenbrauen, ihre Figur... Sie lebte wie alle anderen und sprach die gleiche Sprache. Aber sie hatte ein Geheimnis: Als sie starb, erkannte man am Kreuz an ihrem Hals, dass sie Armenierin war. Ich weiß nicht, wovor sie Angst hatte, aber sie musste ihre Identität bis zum Tod verheimlichen“, erzählt Kilimci und fügt hinzu: „Ich wünschte, die Menschen in diesem Land könnten frei und ohne Zwänge leben.“
Während ihrer Zeit in Damlacık hat Familie Kilimci dreimal die Wohnung gewechselt. Das Mietverhältnis spielte aber keine Rolle. Man verbrachte die Zeit gemeinsam – vor den Haustüren, in den Gärten und beim Nachmittagstee.
— Jahre später besuchte ich Damlacık, um mir das Viertel anzusehen, in dem ich geboren wurde. Ich stand an der Bushaltestelle und schaute auf den Ort.
– Was haben Sie in diesem Moment gefühlt?
— Die Nachbarschaft existierte nicht mehr. Ich dachte, ich hätte einen Sonnenstich. Ich schloss meine Augen und öffnete sie wieder. Ich sah aber ein schwarzes Loch vor mir.
Ein Großteil von Damlacık wurde beim Bau des Konak-Tunnels zerstört. Die Tunnelstrecke verläuft unter Damlacık. Nach einem dringlichen Beschluss des Ministerrats über Enteignung im Jahre 2013 wurden erstmals 39 Gebäude im Sümer-Viertel abgerissen. Ein Jahr später wurden Hausbesitzer in der Nachbarschaft und auch manche im Namık Kemal-Viertel aufgefordert, ihre Häuser zu räumen. Im Jahr 2015 wurden weitere 64 Gebäude abgerissen, die ein Gericht anhand eines Sachverständigengutachtens als stark beschädigt eingestuft hatte. In der Begründung hieß es, diese Häuser würden „eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit von Leben und Eigentum darstellen.“ Der Marktwert der Häuser und der Wiederaufbaupreis für Gebäude außerhalb der Enteignungsgrenze wurden an die Grundstückseigentümer gezahlt. Den ehemaligen Einwohnern und Einwohnerinnen des Stadtteils blieb nichts anderes übrig, als sich anderswo ein neues Leben aufzubauen.
Ehemalige Bewohnerin von Damlacık: „Ich hätte gern hier gelebt“
Die Straßen des Sümer-Viertels, mittlerweile Parkplatz öffentlicher und privater Einrichtungen in der Gegend, findet man auf den Karten nicht mehr. Doch der Verlust ihrer Häuser aufgrund des Tunnelbaus hat bei den Einheimischen tiefe Spuren hinterlassen. Frau Emel (74), die direkt über dem Tunnel wohnte, sagt: „Wir konnten unser Haus nicht renovieren, weil wir keine Baugenehmigung bekamen, aber in keinem einzigen Moment dachten wir ans Verkaufen. Wenn die Nachbarschaft nicht zerstört wäre und ich eine Renovierungsgenehmigung erhalten würde, würde ich gerne hier leben.“
Frau Emel heiratete 1966 in eine Familie inDamlacık ein. Mit Bedauern erzählt sie heute von der Situation des Bezirks und des Zentrums von Konak: „Sarıkışla war gerade abgerissen worden. Das Meer war aber noch nicht zugeschüttet, um Land abzugewinnen, auf dem ein Boulevard gebaut werden sollte. Noch gab es weder die Wohnbauten der Sozialversicherungsanstalt (SGK) noch das mehrstöckige Parkhaus, den Betonhaufen. Wenn man in der Schiffanlegestelle von Konak die Fähre verließ, lag vor einem das Alhambra-Kino, das heute die Oper und die Nationalbibliothek beherbergt.
Jahrelang lebten sie in einem kleinen, dreistöckigen Holzhaus mit Blick auf das Meer. Frau Emel zog ihre Kinder in diesem Haus groß, bekam hier die ersten grauen Haare. Sowohl freudige Momente als auch den Schmerz, als ihr Mann verstarb, erlebte sie in diesem Haus. Dann erhielt die Familie – der Tunnelbau war schon in Gang – einen Brief: „Ihr Haus wird enteignet.“ Sie mussten das Haus unverzüglich räumen.
Mit dem Geld aus der Enteignung konnte sich Frau Emel mit Müh und Not ein neues Haus kaufen. Genauso wie sie hatten viele ihrer Nachbarn finanzielle Einbußen erlitten: „Während beispielsweise der Quadratmeterpreis eines vergleichbaren Hauses im Bezirk Halilrıfatpaşa mit dreitausend Lira beziffert wurde, erhielten wir für unsere Häuser pro Quadratmeter tausend Lira. YKM (ein Einkaufszentrum, Anm. d. Übersetzerin) liegt nur zwei Minuten von unserem Haus, dort betrug damals der Quadratmeterpreis 18.000 Lira. Die Häuser selbst hatten vielleicht keinen großen Wert, da sie alt und baufällig waren, aber die Parzellen auf diesem Standort waren wertvoll. Wenn Sie schon unser Haus wegen angeblich erheblicher Beschädigung enteignet haben, hätten sie uns zumindest seinen wahren Wert zahlen sollen“
Die Menschen können ihre Häuser nicht instand halten
Egal welche Straße von Damlacık Sie betreten – es herrscht Stille. Der Bruch in ihrem Leben und das Zurückbleiben in Trümmern hat diese Menschen, die mit Müh und Not über die Runden kommen, sehr verletzt. Die Folgen des Tunnelprojekts sind schwer zu kompensieren.
Naim Yazıcı, ein pensionierter Polizist, der mit seiner 96-jährigen Mutter und seiner älteren Schwester im Bezirk Namık Kemal lebt, versucht seit sieben Jahren ohne jegliche Unterstützung bei den zuständigen Behörden seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Mittlerweile gibt es keine Verwaltungseinheit mehr, die er nicht kontaktiert und keinen Journalisten in Izmir, dem er noch kein Interview gegeben hat.
Yazıcı, dessen Haus im Jahr 2015 als „mittelschwer beschädigt“ eingestuft wurde, erzählt, dass es, wie andere Gebäude in der Region auch, im Jahr 1955 gebaut war – in einer Zeit vor der Einführung der Vorschriften für Erdbebensicherheit und noch ohne professionelle technische Planung. Als die „stark beschädigten“ Häuser in den Parzellen hinter seinem Haus abgerissen wurden, begann das Grundwasser in seinen Keller einzudrängen.
„Auf die Parzellen, wo die abgerissenen Häuser standen, wurde auf gut Glück Beton gegossen, was aber nicht geholfen hat. Der Höhenunterschied zwischen den beiden Straßen beträgt sieben Meter. Daher drängt das Regenwasser, das dort in die Erde sickert, bis zu unserem Haus, in das Fundament. Man sagt, nicht das Erdbeben, sondern das Gebäude tötet. Wir machen uns Sorgen um unsere Sicherheit. Sollte das Haus zusammenbrechen, dürfen wir nicht bauen, ohne die Parzelle nebenan einzubeziehen.
Damlacık befindet sich innerhalb eines archäologischen Schutzgebiets dritten Grades. Im Kemeraltı-Bebauungsplan erster Stufe zur Generalüberholung und Instandhaltung, der auch Damlacık miteinschließt, sind für die neu zu errichtenden Häuser nur zwei Stöcke vorgesehen. Unter der Voraussetzung, dass Parzellen von 40 bis 80 Quadratmeter zusammengelegt werden, kann den Eigentümern ein sogenanntes „Mehrzweckprojekt für Beherbergungs- und Wohnzwecke“ genehmigt werden. Sollte man jedoch während des Hausbaus auf Spuren historischer Artefakte stoßen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Grundstücksenteignung sehr hoch. Das war der Grund, warum die ehemaligen Bewohner des Bezirks nicht zurückkehrten, obwohl ihnen die Kosten für den Wiederaufbau ihrer abgerissenen Häuser erstattet worden wäre. Sie wollten weitere Probleme vermeiden.
Wir fragten die Stadtverwaltung von Izmir (IBB) und die Bezirksverwaltung von Konak, ob sie einen Stadterneuerungsplan für Damlacık haben. In einer schriftlichen Stellungnahme wiesen sie darauf hin, dass die Baumaßnahmen im Bezirk im Einklang mit dem aktuellen "Kemeraltı-Bebauungsplan erster Stufe für Generalüberholung und Instandhaltung" und den Beschlüssen der Ersten Bezirkskommission zum Schutz des Kulturerbes stehen.
Das „historische Stadterneuerungsprojekt“ löst das Problem nicht
In Damlacık und Umgebung stehen viele Gebäude, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut wurden. Obwohl viele von ihnen als Kulturerbe registriert sind, sind sie in einem verwahrlosten Zustand, ohne Türen und Fenster, absturzgefährdet. Elf von ihnen befinden sich auf dem verstaatlichten Gebiet. Während die einfachen Gebäude in Privatbesitz enteignet wurden, ging das Eigentum der als Kulturerbe registrierten Gebäude an die Generaldirektion für das Straßenbauamt über.
Im enteigneten Gebiet wurde ein "Sanierungs- und Landschaftsbauprojekt" angekündigt, das 2021 umgesetzt werden sollte. Sollte das Projekt, dessen Einzelheiten geheim gehalten werden, umgesetzt werden, ist die „Restaurierung“ der als Kulturerbe registrierten abgerissenen Häuser vorgesehen. In Beantwortung unserer Fragen erklärte das Präsidium für Investitionsüberwachung und -koordinierung der Provinz Izmir, dass sich das historische Stadterneuerungsprojekt derzeit in der Ausschreibungsphase befindet.
Es wurde jedoch nicht informiert, wer nach welchem Wirtschaftsmodell diese als Kulturerbe registrierten Objekte betreiben wird, die nach der „Restaurierung“ als Hotel, Jugendherberge, Caféhaus und Restaurant genutzt werden sollen. Die ehemaligen Bewohner des Bezirks erinnern sich daran, dass in der Vereinbarung mit dem Straßenbauamt im enteigneten Stadtteil kein kommerzieller Gewinn gestattet war.
Yazici, der sich Damlacık verschrieben hat, ist der Meinung, dass „Restaurierungs- und Landschaftsprojekte“ allein die Probleme des Bezirks nicht lösen werden. Das historische Damlacık mache die Silhouette des Zentrums von Konak aus und „der Bezirk wurde jahrelang vernachlässigt. Wir hoffen, dass der Staat unsere Bürgerrechte schützt und auch alte Häuser außerhalb des Enteignungsgebiets erdbebensicher erneuert. Das Problem betrifft nicht nur elf als Kulturerbe registrierten Gebäude. Wie soll das zwölfte, das dreizehnte und das vierzehnte Haus – ebenso Kulturerbe – vor dem Abriss bewahrt werden? Seit Jahren heißt es, dass das enteignete Gebiet der Stadt als Gewinn zurückkehrt. Ich weiß nicht, wie das geschehen soll – und was wird mit dem Rest passieren?
Straßenbauamt acht Jahre später: „Wir haben keine Fehler gemacht“
Warum wurde die historische Struktur von Damlacık geopfert? Warum wurde der Ort jahrelang sich selbst überlassen? Die Generaldirektion des Straßenbauamts, das den Tunnelbau – einer von 35 Projekten, die Binali Yıldırım von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) für Izmir versprochen hatte – eingeleitet hat, beantwortete acht Jahre nach der ersten Enteignung, am 26. Juli 2021 unsere Fragen, die wir in Anlehnung an das Gesetz für Informationsbeschaffung gestellt hatten. In dem schriftlichen Antwortschreiben des Straßenbauamts hieß es: „Einige Gebäude entlang der Tunnelstrecke sind ohne Verschulden des Auftragnehmers und der Verwaltung beschädigt.“
Ein von der Generaldirektion des Straßenbauamts ohne Ausschreibung beauftragte Bauunternehmen begann am 24. September 2011 den Tunnel zu bauen. Berufskammern und Bezirksverwaltung brachten das Projekt mit der Begründung, dass der Schutzgebietsstatus der Region ignoriert werde, es von der Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen sei und eine geologische Gefährdung darstelle, vor Gericht. Der damalige Verkehrsminister Binali Yıldırım sagte jedoch: „Schutzgebiet oder nicht, es wird gebaut.“ Der Tunnelbau wurde fortgeführt und der Tunnel wurde schlussendlich im Jahr 2015 – ohne Fertigstellung einer Fußgängerüberführung in Konak – in Betrieb genommen.
Verbrechen an der Stadt: "Wirtschaftskriminalität"
In der von der Union der Ingenieur- und Architektenklammern 2019 herausgegebenen „Karte der Verbrechen an Städten“ ist auch der Konak-Tunnel angeführt.
Die Stadtplanerin Zeynep Yıldırım erklärt, was Verbrechen im Zusammenhang mit Städten bedeuten und unterstreicht, dass es hier um „Wirtschaftskriminalität“ geht:
„Zu dieser Zeit hatte Binali Yıldırım für Izmir einen Projektvorschlag nach dem anderen. Die meisten betrafen den Verkehr. Er argumentierte: „Sie können den Bewohnern Izmir ihr Recht auf Transport nicht nehmen.“ Diese Rhetorik produziert „Viktimisierung“, die dann verinnerlicht wird. Für mich ist das Wirtschaftskriminalität, die versucht, mit Hilfe dieser hegemonialen Sprache zu herrschen. Hier geht es nicht um Verbrechen, die normale Menschen begehen können.“
„Es geht um Gentrifizierung“
Das Unbehagen, das mit dem Tunnelbau in Damlacık seinen Anfang nahm, wurde größer, als die Bewohner über viele Jahre mitten in Trümmern leben mussten. Baustellenoptik, Sicherheitsprobleme und einsturzgefährdete Häuser prägen heute die Silhouette von Damlacık.
Prof. Dr. Dalya Hazar-Kalonya, Assistenzprofessorin an der Fakultät für Stadt- und Regionalplanung der Universität Pamukkale, ist empört, dass der Tunnel durch den Stadtteil hindurchgeführt wurde, ohne die Entscheidung der Bezirkskommission zum Schutz des Kulturerbes abzuwarten.
Für Hazar-Kalonya ist die Startgenehmigung für das „Restaurierungs- und Landschaftsbauprojekt" nach jahrelangem untätigem Warten „Teil eines bewusst geplanten Verfallsprozesses". Sie weist darauf hin, dass Damlacık und Kemeraltı durch denselben „Plan“ „geschützt“ werden: "Sie unterwerfen solche Orte einem Gentrifizierungsprozess, indem sie einerseits bis zum Einsturz der Häuser und den Fall der Grundstückpreise warten und andererseits durch Eigentümerwechsel."
Erstmals von der Soziologin Ruth Glass verwendet, wird „Gentrifizierung“ als Prozess der Ansiedlung der Mittel- und Oberschicht in Stadtzentren definiert, in denen davor Geringverdienende und die Arbeiterklasse gewohnt haben. Nach Hazar-Kalonya kann Gentrifizierung zwar Sicherheitsprobleme eines Stadtteils lösen, aber auch zur Vertreibung der ursprünglich dort lebenden Menschen führen. Sie betont, dass die aus der Gentrifizierung resultierenden Erträge zumeist nicht an das Gemeinwesen zurückgeführt werden und fährt fort:
„Unter dem Vorwand verschiedener Projekte sanieren sie das eine oder andere Gebäude und veranlassen eine Umwidmung. Ein Wohngebiet wird etwa zum Tourismusgebiet umgewidmet und für kommerzielle Nutzung zugelassen. Anschließend beginnen sich auch die umliegenden Gebäude und das soziokulturelle Umfeld zu verändern. Neben seiner historischen Struktur ist Damlacık aufgrund seiner Lage mit Blick auf die Bucht von Izmir eine sehr beliebte Region. Daher existiert eine große Nachfrage nach Mieteinnahmen. Auch wenn das Management der Firma TARKEM, welche die Projekte von "Stadterneuerungsgebiet Kemeraltı und Umgebung" durchführt, dem Schein nach der örtlichen Verwaltung untersteht, handelt es sich überwiegend um eine Einrichtung mit Kapitalbeteiligung. Ich kann zwar keine Gedanken lesen, aber es kann sein, dass die Bewohner von Damlacık über Jahre mit dem Druck der Nachfrage nach Mieteinnahmen allein gelassen und schließlich gezwungen wurden, den Ort zu verlassen.“
Der Friedhof wurde vor 100 Jahren abgetragen
Bei der Ausgrabung des Konak-Tunnels 2013 wurden rund um das Ethnographische Museum 336 jüdische Gräber und mehr als 900 menschliche Knochen gefunden.
Die Historikerin Dr. Siren Bora hat die ursprüngliche Karte des Grundstückes ausfindig gemacht, auf dem der Friedhof bis zur Veröffentlichung der Sıhhiye-Verordnung (1868) in Verwendung war. Sie erzählt, dass der Friedhof für Nicht-Muslime nach der Erteilung einer Baugenehmigung von 242 Hektar im Jahr 1842 auf 115 Hektar zurückgegangen ist.
Nach Bora kam es aufgrund der Bauvorhaben der Stadtverwaltung zunächst zu Übergriffen auf die Grundflächen der nach den Osmanisch-Russischen Kriegen (1877-1878) in Izmir angesiedelten Einwanderer. 1907 schenkte die Jüdische Gemeinde einen Teil des Friedhofsgeländes dem 1851 eröffneten Gureba-i Muslimi-Krankenhaus (nach der Republikgründung das Memleket-Krankenhaus).
Die nach 1914 beschleunigte Bautätigkeit auf dem Friedhofsgelände für Nichtmuslime wurde 1919 durch das Kommissariat der griechischen Besatzungsmacht fortgeführt. Das Kommissariat beschloss 1921 die offizielle Umsiedlung des Friedhofs. Trotz einer Reihe von Interventionen der Israelitischen Kultusgemeinde konnte diese nicht verhindert werden.
Dr. Siren Bora erklärt, dass die Umbettung der Toten aus dem jüdischen Friedhofsgelände, auf dem heute neben dem Ethnographischen Museum auch Varyant, das Archäologische Museum, das Karataş Mädchengymnasium, die Selimiye Moschee und die Sarıkamış Grundschule stehen, bis 1926 gedauert hat. Die beim Tunnelbau 2013 gefundenen menschlichen Knochen wurden auf den Jüdischen Friedhof in Gürçeşme überführt.