Türkei
Zivilgesellschaft besorgt um Reisemöglichkeiten
Immer wieder haben türkische und sogar internationale Medien im Sommer darüber berichtet, dass Visaanträge türkischer Staatsangehöriger in westliche Länder erfolglos sind. So schrieb die britische Nachrichtenagentur Reuters Ende August, dass sich Ablehnungen von Visaanträgen in die EU und den Schengen-Raum über die letzten Jahre gehäuft hätten. Lag die Ablehnungsrate im Jahr 2015 noch bei 4 Prozent, stieg sie 2020 bereits auf 12,5 Prozent und 2021 sogar auf 16,5 Prozent. Die Webseite SchengenVisaInfo.com geht sogar von über 19 Prozent in 2021 für den Schengen-Raum aus, für den 26 Länder (überwiegend EU-Staaten) gemeinsame Visa erteilen. Die Ablehnungsrate soll hier zwar insgesamt gestiegen sein, jedoch für die Türkei deutlich stärker als für andere Länder wie etwa für Russland.
Aktuell macht das Thema auch in den Sozialen Medien die Runde. Empörte Reisewillige beschreiben in langen Threads, welche Dokumente sie eingereicht haben, wie finanziell abgesichert sie seien und dass ihr Reisezweck eindeutig belegt war. Ein prominenter Fall dreht sich um die Sportreporterin Sinem Oktem, die bereits 50-60 Mal in den Schengen-Raum gereist war, um über große Sportereignisse zu berichten. Ihre jüngsten Visumsanträge wurden nun sowohl von Deutschland als auch Frankreich abgelehnt. Von ähnlichem Misserfolg berichtet auch Fırat Elmaz, zum Zeitpunkt der Antragstellung Mitarbeiter der OSZE, der in gesicherten finanziellen Verhältnissen lebt und zuvor bereits vielfach in der EU gereist war.
Auch im weiteren Umfeld des Istanbuler Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit häufen sich entsprechende Erfahrungsberichte. Dabei handelt es sich oft um Menschen, die in der Zivilgesellschaft aktiv sind und auf Einladung einer internationalen oder in der EU beheimateten Organisation dienstlich reisen wollen. Aber auch Studierende, die an deutschen Universitäten zum Masterstudium oder zur Promotion zugelassen wurden, sind offenbar betroffen.
Dabei ist das Risiko einer Ablehnung nicht die einzige Hürde auf dem Weg von der Türkei über die EU- oder Schengen-Grenze. Die schiere Anzahl der einzureichenden Dokumente ist enorm: So werden laut SchengenVisaInfo.com etwa auch abgelaufene, frühere Pässe, frühere Visa für den Schengen-Raum, Großbritannien und die USA, Nachweise über Flug- und Hotelbuchungen, Steuerbescheide, Arbeitsverträge, Schreiben des Arbeitgebers mit Angaben zu Gehalt und Urlaub sowie Kontoauszüge verlangt. Hinzu kommen hohe Bearbeitungsgebühren von ca. 80 EUR für das Visum selbst und weitere Gebühren für die zumeist obligatorisch zwischengeschaltete Visumsagentur. In dem inflationsgeplagten Land ist dies kein Pappenstiel, zumal wenn das Geld bei Ablehnung des Antrags verloren ist. Allein im vergangenen Jahr wurden von türkischen Staatsbürgern etwa 3,6 Mio. EUR für abgelehnte Schengen-Visa gezahlt. Und nicht zuletzt scheitert die Beantragung oft schon durch die enormen Wartezeiten für den Beantragungstermin – zuweilen bekommt man ihn erst nach mehreren Monaten.
Vorwürfe von höchster Ebene
Wenngleich die Ursachen für die steigenden Ablehnungszahlen keineswegs offensichtlich sind, hat die türkische Regierung in ihnen ein willkommenes Vorwahlkampfthema entdeckt, das sich nahtlos in ihre antiwestliche Rhetorik einfügt. So beschuldigte Außenminister Mevlut Çavusoğlu jüngst die EU-Länder und andere westliche Staaten, die Einreise türkischer Staatsangehöriger im Vorfeld der Wahlen absichtlich und aus politischen Gründen zu erschweren. Er drohte mit Gegenmaßnahmen, sollte sich die Praxis nicht ändern. Bislang können EU-Bürger visumfrei in die Türkei einreisen, aus einigen Ländern reicht für den Grenzübertritt sogar der Personalausweis. Türkischen Medien zufolge sprach Çavusoğlu bei den jüngsten Treffen mit seinen deutschen und amerikanischen Amtskollegen Baerbock und Blinken dies an.
Bereits im Juli reichte die Türkei einen Bericht zur Zunahme der Visa-Ablehnungen bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ein. Darin werden nicht nur die steigenden Ablehnungszahlen selbst beklagt, sondern auch die steigenden Kosten, die zunehmend kurze Geltungsdauer der Visa und die Menge der für den Antrag geforderten Dokumente.
Unverständnis bei der EU
Der EU-Botschafter in Ankara, Nikolaus Meyer-Landruth, wies die Vorwürfe der türkischen Regierung im August zurück. Demnach liege die Ablehnungsrate auf globalem Niveau und es gebe in jedem individuellen Fall einer Ablehnung objektive Gründe wie unvollständige Anträge oder Betrugsversuche.
Auch der Türkeiberichterstatter im Europäischen Parlament, Nacho Sanchez Amor, zeigte sich von den Anschuldigungen überrascht. Zu denken, die EU-Staaten hätten sich verabredet, um türkischen Staatsangehörigen das Leben schwer zu machen, sei reine Fantasie. Amor zog vielmehr eine Verbindung zur nach wie vor nicht zustande gekommenen Visaliberalisierung mit der Türkei, die eine Visabeantragung ja bei Inkrafttreten obsolet machen würde. Sie war 2016 im Zuges des Flüchtlingsabkommens mit der EU in Aussicht gestellt worden, aber die Türkei erfüllt bislang nicht die notwendigen Voraussetzungen. Die Bürgerinnen und Bürger sollten ihre eigene Regierung fragen, warum es hier nicht vorangehe, so Amor. Er verweist allerdings auch auf den Verfall der türkischen Lira als mögliche Ursache – viele Antragstellende könnten schlicht ihre finanzielle Absicherung in Euro nicht mehr belegen.
Einzig die USA kündigten nach Çavusoğlus Erklärung an, ihre Kapazitäten für die Visabearbeitung zu erhöhen und somit zumindest den Antragsprozess zu erleichtern.
Was tatsächlich hinter den offenbar steigenden Ablehnungszahlen steckt, ist schwer zu bestimmen. Ein Teil des Unmuts dürfte von langen Wartezeiten und hohen Kosten herrühren. Auch liegt es nahe, dass die hohen Anforderungen an eine finanzielle Absicherung der Reise – welche ja auch Garant für eine Rückkehr in die Türkei ist – weniger Antragstellende erfüllen können als vor der Inflationskrise. Doch nicht alle Ablehnungsfälle können so erklärt werden. Für Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, die in immer schwieriger werdenden Zeiten versuchen, die europäische Orientierung der Türkei und den Austausch mit ihren europäischen Kollegen am Leben zu erhalten, sind unüberwindliche Grenzen bitter. Und sie spielen letztlich denen in die Hände, die ohnehin ein feindliches Bild der EU zeichnen.