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Krieg in der Ukraine
Im Gedenken an den Aktivisten Ivan Paramonov

Ivan Paramonov wurde 28 Jahre alt. Am 8. Juni wurde er in der Region Charkiw getötet.
Ivan Paramonov

Ivan Paramonov war Mitbegründer der NGO Shtuka, mit der das Ukraine-Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit seit 2022 eng zusammenarbeitet. Ivan Paramonov ist am 8. Juni 2024 an der Front bei Charkiw gefallen. 

Kennen Sie das, wenn Ihr schlimmster Alptraum wahr wird? Wenn etwas passiert, woran Sie einmal bereits gedacht haben, den Gedanken aber schnell verdrängt haben, weil er unerträglich schien? Ich sage Ihnen, wenn das passiert, reißt es Ihnen plötzlich den Boden unter den Füßen weg. Und plötzlich erscheint alles irrelevant. Jede Unterhaltung um Sie herum wirkt wie blanker Hohn angesichts der menschlichen Katastrophe.

Ivan Paramonov wurde 28 Jahre alt. Am 8. Juni wurde er in der Region Charkiw getötet. Seine Energie schien endlos. Und für alle, die ihn näher kannten, erscheint es völlig surreal, dass dieses Licht auf einmal erloschen ist. Im Angesicht jeder Katastrophe blieb er der Inbegriff des Wortes „Resilienz“.

Nein, er war mehr als das. Ich kenne kaum jemanden, der inmitten der unvorstellbarsten Schwierigkeiten so viel Energie aufbringen konnte, um sofort zu reagieren und seinen Mitmenschen zu helfen. Der Optimismus und die Energie, die ihn trieben, waren der absolute Wahnsinn. Sie rissen einen mit.

Ivan liebte das Leben, die Freiheit, die Menschen und die Ukraine. Getrieben von der Liebe für sein Land und dem Sinn für Gerechtigkeit war er seit der Maidan-Revolution 2014 Aktivist. Er arbeitete an sozialen Integrationsprojekten mit Veteranen in der Ostukraine, lange vor Beginn der russischen Vollinvasion von 2022. Er unterstützte Ferienlager, Kultur- und Jugendprojekte und Aufbauprojekte in der Ostukraine, arbeitete mit Jugendprojekten sogar direkt an der Kontaktlinie – bis russische Panzer diese im Februar 2022 einfach überrollten. Ich sprach mit ihm erst vor einigen Monaten über den Schmerz, die Resultate der langjährigen Arbeit in Trümmern zu sehen. Im Jahr 2019 sammelte er Geld für ein Projekt zur europäischen Geschichte des Donbas. Denn ihm und vielen anderen war klar, dass die Erzählung über diese angeblich russische Region ein russisch-imperiales Märchen war. Und das musste offengelegt werden. Auch in Berlin.

Ivan Paramonov
© Fotos zur Verfügung gestellt von Mitgliedern des Shtuka NGO-Teams

Selbst aus Kyjiw stammend, war er seit dem russischen Angriff 2014 von der Ostukraine besessen – im besten Sinne des Wortes. Er sah, was viele nicht sahen: dass dort die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukraine und Europas zusammenkommen. Die Idee der von ihm und seinen Freunden in Myrnohrad (Region Donezk) gegründeten und immer noch dort ansässigen NGO Shtuka war es, die Komplexität, europäische Geschichte, die Vielfalt und das künftige Potential der Donezk- und Luhansk-Regionen zu zeigen – vor allem nach dem Beginn der russischen Aggression 2014.

Wir verbrachten im vergangenen Jahr viel Zeit miteinander. Er sprach immer wieder über seine innere Unruhe. Er konnte an nichts anderes denken als daran, dass die Ukraine existentiell bedroht ist und welche Rolle die Zivilgesellschaft dabei spielen sollte. „Ich denke, dass jeder von uns an die Front gehen müssen wird“, sagte er mir. „Vielleicht sollte ich lieber bald gehen und probieren irgendwo unterzukommen, wo ich mein Schicksal noch selbst in der Hand habe?“

Es ist der 9. Juni, ich bin fassungslos und scrolle durch unsere Chats. Ich weiß, dass ihn dieser Gedanke immer stärker umtrieb, wie es seinem Land geht und wie er es positiv beeinflussen könnte. Am 21. November 2023 schrieb er mir: „Ich bin seit Tagen überwältigt von zwanghaften Gedanken über die Zukunft der Ukraine. Es kommt mir so vor, als ob unsere einzige Chance, diesen Krieg zu gewinnen, eine groß angelegte Militarisierung der gesamten Gesellschaft wäre.“

Wir sprachen viel darüber, und auch über andere Themen: Was meinen die Leute eigentlich genau, wenn sie sagen, man müsse die Resilienz der Gesellschaft gegen diesen Krieg stärken? Welche Rolle kann die ukrainische Zivilgesellschaft in diesem Krieg haben? Und was vor allem mich umtreibt: Was können ausländische Organisationen in diesen Zeiten beitragen?

Ivan Paramonov

Ivan Paramonov und Igor Mitchnik

© Bild bereitgestellt von Igor Mitchnik

Ich scrolle weiter durch unsere Nachrichten und erreiche den Januar 2024. Ivan und ich arbeiteten gerade an einem Projektantrag zur Stärkung ostukrainischer Initiativen. Wir schrieben viel hin und her. Der Prozess war frustrierend, wie es häufig bei Anträgen der Fall ist. Auf einmal schreibt er mir: „Hey, sorry für die unstrukturierten Gedanken. Ich bin gerade ziemlich durch den Wind. Ich und zwei meiner Freunde werden mobilisiert und wir organisieren nun die Übergabe aller Aufgaben.“

Es fühlte sich an wie ein tiefer Schlag in die Magengrube. Es kam überraschend und zugleich war es überhaupt nicht überraschend. Das ist Zivilgesellschaft im Krieg, einem Krieg um das eigene Recht auf Sein. Und in einem existentiellen Kampf um die Zukunft Europas wie wir es kennen, bedeutete das für ihn in letzter Konsequenz: Teil des Krieges zu sein.

Er wollte die Ursache des Brands bekämpfen, anstatt weiter die Folgen des Feuers humanitär zu lindern, wie es seine NGO Shtuka seit Februar 2022 in beachtlichem Umfang entlang der Front getan hat. Er brannte für die ukrainische Kultur, eine europäische Kultur, und wollte ihre Schönheit mit der Welt und mit Europa teilen. Russland will diese Kultur zerstören. Wer wird sie davor verteidigen, wenn nicht die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst?

Ivan Paramonov
© Fotos zur Verfügung gestellt von Mitgliedern des Shtuka NGO-Teams

Damals, im Januar, nach seiner Nachricht, plagten mich die folgenden Nächte Alpträume. Ich wusste, was Krieg bedeutet, weil ich in diesem Kontext gearbeitet hatte – und wusste es zugleich überhaupt nicht. Wann weiß man überhaupt, was Krieg bedeutet? Wann weiß man, dass er da ist? Russland sieht sich mit uns, der EU, dem „kollektiven Westen“ im Krieg. Fängt für die meisten hier im Westen, in Deutschland, der Krieg erst an, wenn bei uns die ersten Bomben einschlagen? Wenn Panzer über unsere Berliner Straßen rollen? Wäre erst das ein Albtraum? Kennen Sie das, wenn Ihr schlimmster Albtraum wahr wird?Ivan war Europäer. Russland hat ihn am 8. Juni 2024 getötet. Das ist Krieg. Das ist Krieg mit uns. Russland will alles zerstören, was uns lieb und teuer ist. Was bleibt uns von einem Europa, wenn wir das schulterzuckend hinnehmen?

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Igor Mitchnik ist erster Geschäftsführer von Austausch e.V.