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Serbien
Studierendenproteste versöhnen Generationen miteinander

Belgrad Proteste

Proteste im Zentrum Belgrads.

© CRTA

In Serbien gehen erneut zehntausende Menschen aus Protest gegen das autokratische Regime von Präsident Aleksandar Vučić auf die Straße, diesmal geht der Protest von Studierenden aus. Unsere Mitarbeiterin Edita Barać-Savić unterstützt die Generation ihrer Tochter bei den Protesten und sieht dadurch noch deutlicher, was ihre eigene Generation versäumte.

Die „Generation Z“ glaubt an Schönheit, Liebe, Lachen, Ehrlichkeit und Ehre. Ihre Stimmen sind ein Lied der Freiheit, das die serbische „Generation X“ – ihre Eltern – nicht laut genug singen konnte. Wir sind Zeug*innen einer intergenerationellen Begegnung im Spiegel. Alles, was Eltern jetzt tun können, ist, ihre Kinder zu unterstützen und ihnen zu zeigen, dass sie ihre Träume verstehen und an sie glauben. Ihr gemeinsamer Weg ist nicht einfach, aber er ist gepflastert mit aufrichtigen, unbefleckten und guten Absichten. Diese Kinder sind nicht die Zukunft, sie sind die Gegenwart.

Der Himmel ist uns auf den Kopf gefallen

Im Juli 2024 hatten Vertreter der serbischen Regierung das Hauptgebäude des Bahnhofs von Novi Sad – nach dreijähriger Renovierung durch staatliche chinesische Bauunternehmen und regierungsnahe serbische Subunternehmer – feierlich eröffnet. Nur drei Monate später, am 1. November, stürzt das massive Vordach des 1964 errichteten Gebäudes ein und begräbt fünfzehn Menschen, darunter zwei Kinder, unter sich.

Erst nach massivem öffentlichem Druck gibt es erste Rücktritte auf Beamtenebene sowie Festnahmen einzelner Funktionäre. Doch die Öffentlichkeit ist unzufrieden mit dem Tempo und der intransparenten Kommunikation. Ende November organisieren Studierende in Belgrad eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Tragödie in Novi Sad. Exakt um 11.52 Uhr, dem Zeitpunkt des Einsturzes, blockieren sie gemeinsam mit ihren Professoren die Straße vor ihrer Fakultät und schweigen für fünfzehn Minuten – eine Minute für jedes Opfer. Während sie dies tun, werden sie von unbekannten Schlägern angegriffen.

Nach dem Vorfall breiten sich die Proteste rasch auf weitere Fakultäten und Universitäten in ganz Serbien aus. Studierende blockieren momentan das Rektorat der Universität Belgrad sowie alle fünfzig Fakultäten der größten Universität des Landes. Sie fordern, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, sowie die Veröffentlichung aller Dokumente im Zusammenhang mit dem Einsturz des Vordachs. Zudem verlangen sie mehr Geld für Bildung. Inzwischen erfahren die Proteste, die sich auf weitere Großstädte wie Novi Sad, Niš und Kragujevac ausgeweitet haben, auch Unterstützung von Gymnasiasten, Landwirten und, noch wichtiger, aus der breiten Bevölkerung.

Serbiens autokratisch regierender Präsident Aleksandar Vučić erklärte unlängst, dass er die Regierung "angewiesen" hätte, alle Forderungen der Studierenden zu erfüllen, und veranlasste die Freilassung aller bei den Protesten Festgenommenen. Doch die Kinder derjenigen Generation, die ihre durch den Sturz Slobodan Miloševićs im Jahr 2000 erkämpfe Demokratie zusehends verlor, wenden sich gar nicht an den Präsidenten. Der Präsident habe nicht die Befugnis, Menschen freizulassen oder mehr Geld für Bildung zu versprechen, sagen die Studierenden und sprechen damit dem nahezu allmächtig agierenden Aleksandar Vučić die Legitimation ab. Die Studierenden geben zu verstehen, dass sie nichts weniger als einen Systemwechsel anstreben: weg von der Ohnmacht eines autokratischen Regimes, hin zu einem System der Gewaltenteilung mit demokratisch legitimierten Institutionen, wie sie in der serbischen Verfassung eigentlich vorgesehen sind.

Die Generation, die aufgegeben hat

Die Proteste der Studierenden wecken in Serbien tiefsitzende Emotionen, besonders bei Generation ihrer Eltern. Es ist schwer, keine Bitterkeit und Traurigkeit zu empfinden, weil es nicht geschafft wurde, unseren Kindern ein besseres Leben und freieres Land zu hinterlassen. Während die Eltern beobachten, wie ihre Kinder mit Leidenschaft und Entschlossenheit auf die Straßen gehen, um das zu verändern, was ihnen selbst nicht gelungen ist, beginnt ein emotionales Karussell, in dem sich Stolz mit Trauer mischt.

Als Elternteil spürt man, dass ihr Kampf ehrenwert, aufrichtig und frei von Kompromissen ist. Zugleich hört man von den regierungstreuen Medien, dass dies „keine echten Studentenseien, sondern vom Ausland bezahlte Söldner, die als Minderheit die Mehrheit terrorisiere. Was die Regierung bei ihren Aussagen unterschätzt, ist die Wirkung ihrer Worte: Jede neue Verleumdung erzeugt nur mehr Entschlossenheit, die Proteste fortzusetzen und die Blockaden aufrechtzuhalten. Im Kern fordern die Studierenden etwas Elementares: das Recht auf ein freies Leben in einem demokratischen Land, in dem die Mitgliedschaft in der Regierungspartei keine Bedingung für eine Anstellung nicht allein im öffentlichen Dienst ist.

Und die Eltern? Sie tragen die Last einer Generation mit sich, die während des Niedergangs der serbischen Demokratie geschwiegen, abgewartet, gelitten und am Ende aufgegeben hat. Zu oft wurde nicht ausgesprochen, was hätte gesagt werden müssen, und zu oft wurde zugelassen, dass irrationale Ängste rationale Träume überwältigen. Die Bitterkeit und Trauer über die Last, die wir unseren Kindern hinterlassen haben, kulminiert darin, dass die jungen Menschen von heute die Lieder von damals hören. Von Đorđe Balašević, der mit seinen Songs die für die serbische Gesellschaft in sämtlicher Hinsicht einschneidenden 1990er Jahre prägte, und der wie ihre Eltern in einem Land geboren wurde, das ihre Kinder nie kennengelernt haben.

Wie laut kann Stille sein?

Am 22. Dezember, genau einen Monat nach der ersten Blockade durch die Studierenden der Fakultät für Filmkünste, findet ein massiver Protest aufSlavija“, einem der zentralen Belgrader Kreisverkehre, statt. Aus allen Richtungen fließen Ströme von Studierenden sämtlicher Fakultätenund mit ihnen und an ihrer Seite stehend ihre Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel, Schauspieler, Sportler und Landwirte. Ein Querschnitt serbischer Bürgerinnen und Bürger.

Die Versammlung beginnt mit einer fünfzehnminütigen Schweigeminute. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Wie immer konnte bereits im Vorfeld davon ausgegangen werden, dass die Proteste von den Medien kaum thematisiert oder ihre Teilnehmerzahl heruntergespielt würde. Das Innenministerium erklärt am Abend, dass maximal 29.000 Bürgerinnen und Bürger vor Ort gewesen seien. Anhand des verfügbaren Bild- und Videomaterials schätzt dasArchiv für öffentliche Versammlungen“, eine vertrauenswürdige Nicht-Regierungsorganisation, die Anzahl der Teilnehmenden auf rund hunderttausend Menschen.

Doch letztlich sind Zahlen nicht entscheidend, sondern das, was hunderttausend Bürgerinnen und Bürger während dieser gewaltigen Stille fühlen konnten. Jede und jeder der Anwesenden wird sagen, dass dieses unbeschreibliche und unbezahlbare Gefühl nicht in Zahlen auszudrücken istnur in Emotionen.

Video – die lauteste Stille:

© © Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit/EBS

Edita Barać-Savić ist Projektmanagerin für zivilgesellschaftliche Kooperation der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Westbalkan-Büro mit Sitz in Belgrad.