Wirtschaft
Megaproblem des Mangels
An diesem Wochenende widmet sich das Handelsblatt einen ungeheuer wichtigen Themenschwerpunkt, der noch immer in Deutschland ein Schattendasein führt: die Knappheit an Arbeitskräften. Sie ist überall sichtbar, nicht mehr nur in hoch qualifizierten technischen Berufen. So gefährdet der Mangel im Pflegebereich längst unser Gesundheits- und Sozialsystem, was Corona schonungslos aufgedeckt hat. Fast auf jedem Lastwagen ist zu lesen: Fahrer gesucht. Botendienste in den Großstädten annoncieren: Zusteller gesucht. Restaurants plakatieren: Aushilfskräfte gesucht. Wo man nur hinschaut: offene Stellen und unerledigte Arbeit.
Wen wundert`s! Die demografische Entwicklung beginnt in diesen Jahren erbarmungslos zuzuschlagen. Schritt für Schritt verabschiedet sich die Babyboomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt. Es sind all jene Menschen, die zwischen 1955 und 1970 geboren sind, die größte und bis dato bestausgebildete „Kohorte“ am Arbeitsmarkt. Mit ihr verschwindet das Rückgrat der innovativer Ingenieure der deutschen Industrie, aber auch die vielen Hände und Köpfe, die das tägliche Leben lebenswert machen – vom Taxifahrer bis zur Aushilfskraft in der Gastronomie.
Diese Entwicklung hat eine wichtige willkommene Seite. Die lautet: Die Menschen finden künftig Jobs zu steigenden Löhnen und ordentlichen Arbeitsbedingungen bei stetig verbesserter Ausrüstung und Möglichkeiten der Weiterbildung, denn es liegt in der Natur des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, dass die Arbeitgeber in dieser Lage ein Eigeninteresse haben, all dies zu gewähren. Das ist sozial erfreulich und psychologisch bedeutsam, denn nichts ist schöner als Nachfrage zu spüren. Es motiviert und mobilisiert, ganz ohne staatliche Hilfe – eine Art „Privatisierung der Arbeitsmarktpolitik“ (Herbert Giersch). Solch einen Zustand hatten wir zuletzt im Westdeutschland der Sechzigerjahre. Damals lag die Arbeitslosenquote überall nahe null, die Anzahl der offenen Stellen näherte sich offiziell der Millionengrenze und lag inoffiziell weit darüber.
Wir brauchen eine neue Angebotspolitik
Für die Wirtschaft und ihre Kunden hat die Knappheit an Arbeitskräften allerdings fast nur Nachteile: Planungen und Projekte der Infrastruktur verzögern sich, weil es überall an Handwerkern, Bauarbeitern und industrieller Kapazität fehlt; die Lebensqualität leidet, weil kundenfreundliche Dienstleistungen „wegrationalisiert“ werden – zugunsten technischer Lösungen und anstrengendem „Do-it-yourself“; der Staat muss hohe Löhne und Gehälter zahlen, um überhaupt noch qualifiziertes Personal zu finden, was die Staatsfinanzen belastet. Und vielleicht am wichtigsten: Es gibt immer weniger kluge Köpfe, die der Innovationskraft der Wirtschaft dienen können, ohne an anderer Stelle riesige Lücken zu reißen.
Was also tun? Die Antwort lautet: Wir brauchen eine neue Angebotspolitik, die alles tut, um mehr Menschen zu motivieren, sich in ein erfülltes Arbeitsleben zu stürzen – und zwar auf allen Niveaus der Qualifikation. Dazu zählt zunächst ein kluges Einwanderungsgesetz, das fleißige Menschen nach Deutschland zieht und ihnen erlaubt, vor Ort sich einen Job zu suchen, so wie es in Kanada mit seinem Punktesystem der rationalen Auswahl von Migranten geschieht. Deutschland ist schon heute ein Einwanderungsland, und es muss es noch viel mehr werden. Das bisher vorhandene Instrumentarium, allem voran die „Blue Card“, reicht nicht aus. Sie setzt voraus, dass Zuwanderungswillige sich bereits aus der Ferne die Zusage eines Jobs besorgen – und das funktioniert nur in wenigen Ausnahmefällen. Wir brauchen aber pro Jahr Hunderttausende von Zuwanderern, und die kommen nur, wenn man sie in Deutschland selbst nach Arbeit suchen lässt.
Höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen
Daneben brauchen wir eine noch höhere Erwerbsbeteiligung im Inland, als wir bisher haben. Vor allem bei Frauen gibt es da noch beachtliche Potenziale, insbesondere im Vergleich zu skandinavischen Ländern. Island, Norwegen und Schweden rangieren in dieser Hinsicht noch immer deutlich vor Deutschland, was auch daran liegen mag, dass dort die Schul- und Betreuungsangebote für Kinder besser auf die Berufstätigkeit von Frauen zugeschnitten sind. Auch der Weg von Teilzeit- in Vollzeittätigkeiten muss erleichtert werden, vor allem für Frauen. Bei steigenden Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durch günstige Marktlage dürfte dies ohne große Friktionen möglich sein, denn so manche Familie beginnt erst dann über eine neue Arbeitsteilung zwischen Haushalt und Beruf nachzudenken, wenn das erzielbare Einkommen hinreichend attraktiv ist.
Schließlich geht es auch um eine längere Lebensarbeitszeit, natürlich freiwillig gewählt. Wer mit über 67 Jahren noch fit und motiviert ist, sollte sich noch nicht in den Ruhestand verabschieden, sondern weiterarbeiten können, wenn der Arbeitgeber ein attraktives – und ggf. hinreichend flexibles – Angebot macht. Auch da wird die neue Interessenlage der Wirtschaft helfen: So manches Unternehmen wird alles daran setzen, bewährtes Personal so lange wie möglich im Betrieb zu halten, ggf. auch durch Umgestaltung des Arbeitsplatzes.
Fazit: Vieles an Angebotspolitik ist möglich, wenn man nur politisch will und die richtigen Konzepte anwendet. Hier liegt eine zentrale Aufgabe für die neue Bundesregierung.