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Jubiläum
Zum 85. Geburtstag von Mario Vargas Llosa

"Die Freiheit und die Armen"
picture alliance/dpa | Annette Riedl
Der peruanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa spricht während Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals 2020 im Kammermusiksaal der Philharmonie. © picture alliance/dpa | Annette Riedl

Der Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa feierte am Sonntag seinen 85. Geburtstag. Der peruanische Schriftsteller, Politiker und Journalist ist einer der führenden Literaten Lateinamerikas. Im Jahr 2008 zeichnete die Friedrich-Naumann-Stiftung ihn mit dem Freiheitspreis aus, 2010 erhielt er den Literaturnobelpreis. Im Fokus seiner Arbeit  ob als Schriftsteller oder Politiker  stehen seit jeher die Themen Freiheit, Macht und ihr Missbrauch.

Zu seinem 85. Geburtstag veröffentlichen wir Llosas Rede anlässlich der Verleihung des Freiheitspreises am 8. November 2008 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main.
 

Den "Freiheitspreis", den mir die Naumann-Stiftung verleiht, nehme ich mit Freude und Dankbarkeit entgegen. Das Wort, nach dem diese großzügige Auszeichnung benannt ist – Freiheit -, steht in einem solchen Maße für den zivilisatorischen Fortschritt und die Hoffnungen der Menschen, dank derer sich die Geschichte weiter entwickelt, dass ich als Empfänger dieser Anerkennung von der damit aufgebürdeten Verantwortung einfach überwältigt bin. Es versteht sich von selbst, dass ich den Preis, den ich in aller Bescheidenheit entgegennehme, als Auftrag verstehe, meine Arbeit mit intellektueller Strenge und Authentizität fortzuführen. Beim Thema Freiheit erinnere ich mich an ein selbstgerechtes Vorurteil aus meinen Jugendjahren, als sozialutopische Anwandlungen hoch im Kurs standen: dass die Freiheit ein Kind der Privilegien sei, dass sie nur den Reichen und Mächtigen zugute komme, während sie für die Armen nichts als Betrug und Zauberei bedeute, bar jeder Wahrheit und inhaltlichen Substanz, denn, so haben wir damals erklärt, wozu sollte die Freiheit denen dienen, die verzweifelt ums nackte Überleben kämpfen. Freiheit zum Verhungern? Freiheit zur Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Marginalisierung?

Diesem überlieferten Trugschluss würde ich gerne entgegentreten, indem ich an zwei konkreten Beispielen, in beiden Fällen Geschichten von Armen aus meinem Land, Peru, aufzeige, wie die Freiheit, ganz im Gegensatz zu jenem Vorurteil, wenn es sie gibt und sie genutzt wird, zu dem Instrument wird, mit dem die Armut am schnellsten und wirksamsten auf die einzig mögliche Art überwunden wird: durch das Schaffen von Reichtum. Die erste Geschichte handelt von einer Familie, den Añaños, deren Name nicht leicht zu behalten ist, da die beiden "Enjes" Ausländern ernsthafte Schwierigkeiten bei der Aussprache bereiten. Trotzdem lohnt es sich, den Namen nicht zu vergessen, denn der außergewöhnliche Lebensweg der Familie Añaños – der geradezu dazu bestimmt zu sein scheint, die von uns Liberalen vertretenen Vorstellungen zu veranschaulichen – sollte als Beispiel dafür bekannt gemacht werden, wie gut es Lateinamerika gehen könnte, wenn die Demagogen ihrem Vorbild folgten, anstatt ihre Energien darauf zu verschwenden, sich gegen die Globalisierung zu wenden, oder, wie im Falle des Bolivianers Evo Morales und des Venezolaners Hugo Chávez, mit der Vernichtung der westlichen Kultur zu drohen; in beiden Fällen wäre die Zeitverschwendung nicht geringer, wenn sie versuchten, auf den Mond zu spucken oder gegen die Schwerkraft zu protestieren.

Eduardo und Mirta Añaños hatten einen kleinen Hof am Osthang der Anden, im Inland von Ayacucho, dem verarmten Departement, in dem die maoistische Bewegung Leuchtender Pfad entstand – gleichzeitig die peruanische Region, die in den achtziger Jahren, der Zeit des Terrors, die meisten Toten und Verschwundenen zu beklagen und die höchsten Sachschäden zu verzeichnen hatte. Dieses Landgut wurde von einer revolutionären Kommandoeinheit überfallen und verwüstet. Das Ehepaar und seine Kinder überlebten unversehrt, doch statt wie Zehntausende Bauern- und Mittelschichtfamilien in Richtung Küste zu fliehen, zogen sie sich in ihr kleines Haus in der Stadt Ayacucho zurück, um nach ihrem Unglück dort weiter zu leben. Doch womit sollten sie in dem von Terrorismus und Gegenterror geplagten Land mit seinen Tausenden Arbeitslosen und Marginalisierten, die auf der Straße bettelten, ihren Lebensunterhalt bestreiten? Die Añaños analysierten ihre Umgebung und stellten fest, dass es in Ayacucho aufgrund der terroristischen Aktionen keine Erfrischungsgetränke mehr gab. Die Lastwagen von Coca Cola und Pepsi Cola aus Lima, die die wichtigste Straße hinauf fuhren, wurden fortwährend von Mitgliedern des Leuchtenden Pfades oder von gewöhnlichen Kriminellen überfallen, die sich als Guerilla-Kämpfer ausgaben, woraufhin die betroffenen Unternehmen die Lieferungen einstellten oder in so großen Zeitabständen durchführten, dass die gelieferten Getränke nicht zur Deckung der Nachfrage vor Ort ausreichten. Einer der fünf Söhne von Eduardo und Mirta Añaños, Jorge, von Beruf Agraringenieur, entwickelte eine Formel für ein neues Getränk. Die Familie nahm eine Hypothek auf ihr Haus auf, borgte sich überall Geld und brachte 30.000 Dollar zusammen. Mit diesem Kapital gründete sie 1988 Kola Real und nahm im Hof ihres Hauses die Produktion von Erfrischungsgetränken auf. Zwanzig Jahre später schätzen die Analysten der Wall Street den Jahresumsatz des Familienunternehmens, das unter derart unsicheren Bedingungen gegründet wurde, auf über eine Milliarde Dollar und vertreten die Ansicht, dass es in Peru, Ecuador, Venezuela und Mexiko, in vier zentralamerikanischen Ländern und sogar noch in Thailand zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz für die nordamerikanischen Giganten Coca Cola und Pepsi Cola geworden ist; aufgrund der aggressiven Präsenz der peruanischen Limonade ist in all diesen Ländern, vor allem aber in Mexiko - nach den USA der zweitwichtigste Markt der Welt für nichtalkoholische Getränke – ihr Marktanteil dramatisch zurückgegangen, wodurch sie dazu gezwungen waren, die Preise zu senken und ihre Werbekampagnen zu vervielfachen. In Peru hat Kola Real einen Marktanteil von fast 20 Prozent, in Venezuela erreicht er 14 Prozent, und in Mexiko, wo die Añaños erst seit der Eröffnung eines hypermodernen Werks am Stadtrand von Puebla im Jahr 2002 vertreten sind, liegt er bei 6%. In ihren rund einhundert Vertriebsfirmen in aller Welt beschäftigen die Añaños rund achttausend Personen. Was war nun das Geheimnis für den Erfolg dieser Unternehmerfamilie? Ich vermute, zunächst einmal die Qualität des Produkts. (Persönlich ist mir der süßliche Geschmack und das Sprudeln in allen Erfrischungsgetränken zuwider, trotzdem werde ich die Kola Real probieren, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, was bleibt mir anderes übrig).

Aber auch der Scharfsinn, mit dem das Unternehmen die Marktbedingungen untersuchte und sich an sie anpasste, indem er zuerst den verarmten Bewohnern Ayacuchos und anschließend den rezessionsgeplagten Peruanern, Ecuadorianern, Venezolanern, Zentralamerikanern und Mexikanern eine im Vergleich zu anderen preisgünstigere Limonada in größeren Flaschen anbot. Um sein Produkt zu derart günstigen Preisen anbieten zu können, hat Kola Real seine laufenden Kosten drastisch gesenkt und die Werbeausgaben auf ein Minimum reduziert, in seinen Anlagen wird äußerst sparsam gearbeitet – das Kronjuwel, die Fabrik in Puebla, gleicht eher einem spartanischen Konvent –, und das Vertriebsnetz ist in den Händen der Firma und wurde nicht an Konzessionäre abgetreten. Die Konkurrenz zwischen Kola Real einerseits und Coca Cola und Pepsi Cola andererseits war in Mexiko am auffälligsten. Schließlich hatte Coca Cola in dem Land bis vor Kurzem 11% seines weltweiten Gewinns erwirtschaftet. Kola Real brachte dort seine Big Cola in der 2,6 Literflasche für 75 Cent auf den Markt, also zu einem deutlich niedrigeren Preis als die 2,5 Literflasche von Coca Cola, die für 1,30 Dollar und damit für über einen halben Dollar mehr verkauft wurde. Wie der Geschäftsführer von Kola Real in Mexiko, Carlos Añaños Jeri, dem Economist berichtete, belieferten im Jahr 2003 die 600 Lastwagen der Firma 24 Vertriebszentren mit Getränken des Unternehmens, die wiederum rund 100.000 Verkaufsstellen versorgten.

Laut Unternehmensplanung sollte die Anzahl dieser Stellen in fünf Jahren auf 900.000 steigen. Das war leichter gesagt als getan. Bei Gesprächen an Ständen und in Geschäften stellten Journalisten des Wall Street Journal fest, dass Coca Cola energisch reagierte und vielen Abnehmern Sonderangebote und andere Anreize in Aussicht stellte, sollten sie Big Cola aus den Schaufenstern entfernen und nur noch ihr Getränk anbieten. Für dieses Vorgehen erteilte die für die Sicherstellung eines sauberen Wettbewerbs zuständige mexikanische Bundeskommission dem Unternehmen 2003 eine scharfe Rüge. Würde der peruanische David des Geschäfts mit den Erfrischungsgetränken letztlich den US-Goliath besiegen, oder würde dieser im Gegenteil den frechen Konkurrenten übernehmen, indem er eine schwindelerregende Summe, vielleicht 500 Millionen oder 1 Milliarde Dollar, auf den Tisch legte? Nichts dergleichen ist eingetreten. Big Cola hat sich auf dem mexikanischen Markt fest etabliert, und die Zahl seiner Käufer nimmt von Tag zu Tag zu. Für die Moral dieser Geschichte spielt der Ausgang der Añaños-Sage keine Rolle. Wichtig ist, wie sie begonnen hat und bis zu welchem Punkt sie sich entwickeln konnte. Dass eine einfache Familie, deren Hauptressourcen ihr Einfallsreichtum und ihre Einsatzbereitschaft waren, in einem so gesättigten Markt wie dem der Erfrischungsgetränke eine Nische entdeckt hat, in der sie Fuß fassen und sich entwickeln konnte und dabei solche Fortschritte gemacht hat wie in diesem Fall, belegt erneut, was viele von uns bereits wussten, was eine weitaus größere Gruppe in Lateinamerika jedoch ignoriert oder aufgrund ideologischer Vorurteile nicht zur Kenntnis nehmen will: Ein Markt mit freiem Wettbewerb bietet immer Raum für Firmen mit einem starken Unternehmergeist und einem sicheren Gespür für die Bedürfnisse der Verbraucher. Deshalb ist es eine glatte Lüge zu behaupten, dass die großen transnationalen Unternehmen die kleinen Unternehmen ersticken und letztlich immer über kurz oder lang ihre Monopole errichten. (Dies geschieht nur, wenn korrupte oder unfähige Regierungen es zulassen). Und selbstverständlich kommt der Erfolg eines Unternehmers, der sich von seinen Konkurrenten absetzt, der Gesellschaft insgesamt zu Gute, indem er zu Preissenkungen führt und die anderen dazu zwingt, die Qualität ihrer Produkte und ihrer Serviceleistungen zu verbessern, um keine Kunden zu verlieren oder vom Markt verdrängt zu werden.

Wie viele Arbeitsplätze hat Kola Real bisher in dem Dutzend Länder geschaffen, in denen das Unternehmen vertreten ist? Zu den bereits genannten achttausend müssen natürlich noch mehrere Tausend indirekte Arbeitsplätze hinzugerechnet werden, die im Zusammenhang mit dem Unternehmen entstanden sind. Über die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen hinaus hat das Unternehmen für Dynamik und Kreativität in einem Wirtschaftszweig gesorgt, der in den Armen der beiden Giganten, die sich die Verbraucher von Erfrischungsgetränken untereinander aufgeteilt hatten, zu schlafen schien. Die Añaños stehen für einen Kapitalismus, der in Lateinamerika weitgehend unbekannt ist oder bewusst nicht zur Kenntnis genommen wird: ein Kapitalismus des Volkes, der unter einfachsten Bedingungen entsteht, wie bei den durch Krieg oder Dürre oder von Winkeladvokaten von ihrem Land vertriebenen Campesinos oder bei den Arbeitern, die ihren Lohn verloren haben, weil die Fabriken in Konkurs gegangen oder abgebrannt sind oder geplündert wurden, die sich eine Tätigkeit erfinden mussten, um essen zu können, und die wie jene Familie aus Ayacucho Werkstätten, Stände, Läden, Kunsthandwerksbetriebe oder Fabriken eröffneten und sich dabei über fast unüberwindbare Hürden hinwegsetzen mussten, die Bürokratie, Übervorteilung und Misstrauen und manchmal auch der staatliche Hass auf die Privatunternehmen und den Markt vor den schutzlosen Lateinamerikanern errichten, die keine Paten haben und selbstständig arbeiten wollen, anstatt wie Parasiten an den öffentlichen Haushalten zu hängen. Sicher haben dabei nur wenige so viel Erfolg wie die Añaños.

Viele andere hätten ihn jedoch, wenn in Lateinamerika und den übrigen Ländern der Dritten Welt eine Politik betrieben würde, die die Eigeninitiative förderte, statt sie abzuschrecken und anzufeinden, und die den Erfolg eines Unternehmens und eines Unternehmers als eine Leistung der gesamten Gesellschaft feierte, als etwas Nützliches für alle Bürger, anstatt ihm mit Misstrauen, Ressentiments und Neid zu begegnen. Es ist nicht abzustreiten, dass in Lateinamerika der unternehmerische Erfolg nicht auf Talent und Einsatz zurückzuführen ist, sondern auf Privilegien, auf die Verfilzung von Regierungen und Unternehmern, für die letztlich die schutzlosen Verbraucher aufkommen. Dies ist jedoch zum großen Teil ein Ergebnis der grenzenlosen Angst vor dem Markt und dem freien Wettbewerb, das heißt vor der Freiheit, und eine Folge der Präsenz des Staats und seiner Fangarme in allen Räumen des Wirtschaftslebens, das damit erstickt und korrumpiert wird. Zu einer Zeit, in der an mehreren Orten der Populismus unseligen Angedenkens mit den bekannten tragischen Folgen in Lateinamerika erneut Blüten treibt – mit Venezuela an der Spitze dieses Irrwegs –, ist es notwendig, auf dem Kontinent die Geschichte der Familie Añaños als lebendige Mahnung dafür bekannt zu machen, wie es Lateinamerika gehen könnte, wenn es sich solche Ziele wie diese mutigen Bewohner Ayacuchos setzte. Auch meine zweite Armengeschichte hat einen Namen: Aquilino Flores. Als sein Vater starb, war Aquilino Flores acht Jahre alt und wusste, dass er in seiner Heimat Huancavelica, einer der ärmsten Provinzen in den peruanischen Bergen, nichts anderes erwarten konnte als die Unsicherheit und den Hunger, mit denen er seit seiner Geburt gelebt hatte. Wie Tausende andere Bewohner der Provinz emigrierte er daher nach Lima.

Dort verdiente er zunächst seinen Lebensunterhalt mit Autowaschen in der Umgebung des Zentralmarkts. Er war ein sympathischer und fleißiger Junge, und eines Tages schlug ihm der Besitzer eines der Wagen, die er wusch, vor, einige der Polohemden, die er in seiner informellen Werkstatt herstellte, für ihn zu verkaufen. Er gab ihm zwanzig Hemden und meinte, er sollte sich so viel Zeit lassen, wie er brauchte. Aquilino verkaufte die zwanzig Polohemden jedoch an einem einzigen Tag. Er war also noch kein Jugendlicher, als er so vom Autowäscher zum ambulanten Verkäufer von Kleidungsstücken im kolonialen Zentrum Limas wurde. Zwar besaß er fast keine Bildung, aber er war einsatzbereit und intelligent und verfügte über ein an ein Wunder grenzendes Gespür für den Geschmack des Publikums. Eines Tages fragte er seinen Polo-Lieferanten, ob er ihm die Hemden mit bunten Figuren liefern könnte, da diese von seinen Kunden bevorzugt würden. Da der Lieferant aber keine bedruckten Kleidungsstücke herstellte, beauftragte Aquilino einen informellen Färber damit, die von ihm verkauften Hemden mit Abbildungen und Verzierungen zu versehen. Manchmal schlug er ihm das Design und die Farben selbst vor. Da das Geschäft gut lief, holte Aquilino seine Brüder Manuel, Carlos, Marcos und Armando aus Huncavelica und stellte sie bei sich an. Mit der Zeit schafften sie es von ambulanten Verkäufern zu festen Händlern im Zentralmarkt. Um sich die besten Plätze im Markt zu sichern, waren sie bereits morgens um halb fünf dort und blieben bis zum Einbruch der Nacht an ihren Ständen. Mit der Zeit wurden sie von Zwischenhändlern und Verkäufern zu Herstellern. Sie begannen mit einer Nähmaschine in einer Garage, danach eine zweite, dann noch eine und anschließend noch zahlreiche weitere. Der Durchbruch für das Geschäft von Aquilino Flores begann an dem Tag, an dem ein Händler aus Desaguadero, einer Stadt an der peruanisch-bolivianischen Grenze, ein Paradies für Schmuggler und Zentrum der informellen Wirtschaft, Hemden mit farbigen Aufdrucken im Wert von zehntausend Dollar bestellte. Aquilino wurde es schwindlig, aber da er nie einer Herausforderung aus dem Weg gegangen war, nahm er auch diese an.

Er nahm umgehend alle auf die Herstellung von Bekleidungsartikeln spezialisierten Werkstätten in seinem Viertel unter Vertrag und lieferte nach unzähligen Überstunden die Polohemden im Wert von zehntausend Dollar zum vereinbarten Termin. Seitdem ist die Familie Flores nicht nur im Verkauf tätig; ihr Geschäftsfeld umfasst über die Herstellung von Bekleidung für Peruaner mit niedrigen Einkommen auch den Vertrieb der Waren nicht nur in Lima, sondern auch in den Provinzen sowie den Export ins Ausland. Vierzig Jahre, nachdem er mittellos in Lima ankam, leitet der ehemalige Autowäscher und Straßenverkäufer heute Topitop und damit das wichtigste Textilunternehmen Perus, das mit einem Jahresumsatz von über einhundert Millionen Dollar fünftausend Menschen (zwei Drittel von ihnen Frauen) direkt und weitere rund dreißigtausend indirekt beschäftigt. Neben fünfunddreißig Läden in Peru und drei in Venezuela betreibt das Unternehmen mehrere Fabriken und hat in Zusammenarbeit mit einer einheimischen Bank ein erfolgreiches Kundenkreditsystem aufgebaut. Flores ist nach wie vor ein einfacher Mann, der auf seine bescheidene Herkunft stolz ist und an sieben Tagen der Woche zwölf Stunden arbeitet. Im Unterschied zu ihm haben seine Söhne an den besten Universitäten studiert und als Fachleute in einer Weise zur Formalisierung und Modernisierung seiner Unternehmen beigetragen, die auch über die Grenzen Perus hinaus beispielhaft ist. Alle Informationen über die Añaños, Aquilino Flores und Topitop habe ich einer eingehenden Untersuchung des Ökonomen Daniel Córdova und seiner Mitarbeiter entnommen, die in dem vor Kurzem im Auftrag des Independent Institut, einer Stiftung zur Förderung der liberalen Kultur, in den Vereinigten Staaten von Álvaro Vargas Llosa herausgegebenen Buch mit dem Titel "Lessons from the Poor" ("Lecciones de los pobres") enthalten sind. Darin werden vier Unternehmen sowie die Tauschklubs untersucht, die in den Jahren 2001 und 2002 während der Finanzkrise in Argentinien entstanden.

Die Unternehmen, jeweils zwei aus Lateinamerika und aus Afrika, wurden, wie bei Flores und den Añaños, ohne Eigenkapital von sehr einfachen Leuten mit geringer Schulbildung gegründet, und dank ihres Einsatzes, ihres Durchhaltevermögens, ihres Gespürs und der geschickten Nutzung der Marktchancen konnten sie sich zu mächtigen Konzernen entwickeln, die mittlerweile weltweit tätig sind, Zehntausenden Familien Arbeit bieten und damit einen Beitrag zur Entwicklung ihrer Länder leisten. Wie dieses anregende und praxisbezogene Buch anhand von nachvollziehbaren Beispielen zeigt, kann die Armut von denen, die bereit sind zu sehen und von guten Beispielen zu lernen, überwunden werden. Bemerkenswert ist an den fünf Geschichten, dass alle Unternehmen Erfolg hatten, obwohl sie in einem gegenüber dem freien Markt und den Privatunternehmen feindlichen, von Populismus, Staatsinterventionismus und Korruption durchsetzten gesellschaftlichen und politischen Umfeld tätig waren, in dem das Privateigentum wiederholten Übergriffen ausgesetzt war und die Spielregeln des Wirtschaftslebens entsprechend den Launen demagogischer und unfähiger Regierungen andauernd wechselten.

Die Untersuchung belegt, dass das Bedürfnis und der Wille der Armen zu leben manchmal in der Lage sind, alle Hürden zu überwinden, die Etatismus, wirtschaftlicher Nationalismus, Kollektivismus und andere marktfeindliche Ideologien in den Ländern der Dritten Welt gegen die Eigeninitiative und die Freiheit errichten. Und dass in außerordentlichen Fällen fehlendes Kapital und eine nicht vorhandene Berufsausbildung durch praktische Erfahrung und Einsatz ausgeglichen werden können. Wenn die Flores und Añaños in Peru, die Supermarktkette Nakamatt in Kenia und das Industriedesignunternehmen Adire in Nigeria – die vier Fallstudien des Buches – trotz der vorgefundenen Hindernisse und Schwierigkeiten ihren heutigen Erfolg erreichten, fällt es nicht schwer sich vorzustellen, was geschähe, wenn die Armen der Dritten Welt in einem konstruktiven Umfeld arbeiten könnten, das die unternehmerische Initiative fördert, anstatt sie durch Überregulierung und eine Besteuerung mit Enteignungscharakter zu ersticken, und wenn die Händler, Handwerker und Industriellen an Stelle von Rechtsunsicherheit auf stabile, klare und gleiche Spielregeln vertrauen könnten. Eine weitere Lehre aus der Untersuchung besteht darin, dass der beste Beitrag der entwickelten Länder und der internationalen Finanzinstitutionen zur Bekämpfung der Armut und der Unterentwicklung nicht die Almosen und Subventionen sind, die im Gegensatz zu den hochherzigen Vorsätzen, die ihnen zugrunde liegen, lediglich die Initiative bremsen, passives Verhalten, Abhängigkeit und Schmarotzertum fördern und die Korruption anregen, sondern die Schaffung von freien Wettbewerbsbedingungen, die es den Armen ermöglichen, sich ihrer eigenen Mittel zu bedienen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern und Fortschritte zu machen. Nach Ansicht aller Ökonomen, die sich in "Lessons from the poor" äußern, wäre die Öffnung der Märkte, zu denen die Produkte aus den unterentwickelten Ländern keinen Zugang haben, die beste Hilfe, die die reichen Länder zur Förderung der Entwicklung in Afrika und Lateinamerika, den rückständigsten Regionen der Erde, anbieten könnten, denn Asien scheint mit Ausnahme von Militärregimen wie Myanmar bereits den Absprung geschafft zu haben.

Die Armen wissen selbst am Besten, dass es nicht die vom Krebsgeschwür der Bürokratie gelähmten und von Ineffizienz, kriminellen Geschäften, Vetternwirtschaft und anderen Mängeln zerfressenen Staaten sein werden, die sie aus der Armut heben, sie haben diese Erfahrung schließlich am eigenen Leib gemacht. Sie wissen, dass ihr Überleben ausschließlich von ihrem Einfallsreichtum, ihrer Arbeit und ihrem Willen zum Aufstieg abhängt, wie Aquilino Flores, als er unermüdlich Autos wusch und Hemden auf den Straßen von Lima verkaufte, oder wie die Familie Añaños, als sie in der Küche ihres Hauses die Flaschen füllte und etikettierte. Diese Energie kann Berge versetzen, vorausgesetzt sie erschöpft und verliert sich nicht im Kampf gegen künstliche Hindernisse, die immer auf die staatliche Einmischung zurückzuführen sind. Diese zivilen Helden, deren überragende Leistungen die Studien in "Lessons from the Poor" beschreiben, sind das lebende Beispiel dafür, dass die Armut, in der weltweit immer noch Hunderte Millionen Menschen leben, kein unabänderliches Schicksal ist, sondern ein Übel, das mit Hilfe der Waffen bekämpft und besiegt werden kann, die in der folgenden, aus vier Worten bestehenden Devise zusammengefasst sind: Arbeit, Privateigentum, Markt und Freiheit.