80 Jahre Befreiung von Auschwitz
Der Wiederaufstieg des Antisemitismus
Der Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit fasst seine Gedanken zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zusammen. Mit 68 Jahren gehört er jener Generation von liberalen Deutschen an, für die eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus immer eine Selbstverständlichkeit war. Er fürchtet, dass diese Tradition spätestens seit dem 7. Oktober 2023 in Gefahr ist.
Mit der Befreiung von Auschwitz endete ein grausames Kapitel des Völkermords, wohl das bisher grausamste der ganzen Geschichte der Menschheit. Dessen Verlauf und Vorgeschichte ist eindrucksvoll erzählt, dokumentiert und analysiert worden – von einer langen Reihe von Wissenschaftlern, allen voran dem israelischen Historiker Saul Friedländer.
Die Geschichte
Wie konnte es dazu kommen? Und warum durch Deutsche? Die Gründe dafür sind im Einzelnen natürlich vielschichtig und reichen weit zurück in die Geschichte des 19. Jahrhunderts: der Wandel von der Liberalität der achtundvierziger Revolution zu einer nationalkonservativen Grundstimmung, in der den Juden in Deutschland von prominenten Historikern wie Heinrich von Treitschke im berühmten Berliner Antisemitismus-Streit von 1879 ihre mangelnde Assimilierung vorgeworfen wurde – trotz deren bester Integration in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben des Landes; die danach zunehmende Welle des politisch organisierten Antisemitismus, der im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik stark anschwoll und in Adolf Hitlers wüsten Drohungen in „Mein Kampf“ zur Vernichtungsfantasie wurde; und schließlich in der geradezu planmäßigen Umsetzung dieser Fantasie im Nazi-Deutschland – mit nur wenig Widerstand aus einer Bevölkerung, die im weltweiten Vergleich einen durchaus hohen Bildungsstandard hatte.
Im Jahr 1948 wurde dann der Staat Israel gegründet, als Heimstatt der Juden aller Länder der Welt, auch als eine Art letzter Zufluchtsort in der Not der Verfolgung. In seiner Verfassung nimmt er expliziten Bezug auf die Schoa. Mit ihm wuchsen wir auf, die Nachkriegsgenerationen, auch die „Babyboomer“ wie der Verfasser dieser Zeilen – er wurde 1956 geboren. Für ihn (und andere) war der Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 eine tiefe Zäsur: über 1.100 Menschen, die allermeisten jüdische Israelis, wurden ermordet, etwa 240 als Geiseln genommen, bis zu 200 Menschen blieben vermisst, eine große, aber unbekannte Zahl wurde misshandelt, vergewaltigt oder verstümmelt. Es begann der Gaza-Krieg Israels gegen die Hamas (und später auch Israels Kampf im Libanon gegen die dortige Hisbollah), mit einer weitgehenden Zerschlagung der paramilitärischen Terrorstrukturen, aber auch einer fünfstelligen Zahl von überwiegend zivilen Opfern, zumal die Hamas vor allem Frauen, Kinder und Kranke systematisch als menschliche Schutzschilde verwendete. Erst jüngst kam es nach zähen Verhandlungen zum Austausch von Geiseln gegen gefangene Palästinenser, darunter Schwerstkriminelle. Den Austausch nutzte die Hamas zu Massendemonstrationen mit vermummten (männlichen) Hamas-Kämpfern, bei denen die (weiblichen) Geiseln, die freigelassen wurden, in demütigender Weise einer johlenden Menge zur Schau gestellt wurden.
Die Gegenwart
Soweit der Stand der Dinge. Er ist zutiefst abstoßend und bedrückend. Niemand weiß, wie es weitergeht. Aber klar ist: Die letzten 15 Monate seit dem 7. Oktober 2023 haben militärisch und politisch Grundlegendes verändert – und zwar nicht nur im Nahen Osten, sondern auch global. Vor allem ist der Antisemitismus massiv angestiegen. Erstmals seit Jahrzehnten beobachtet man weltweit anti-israelische Demonstrationen, die zum Teil durch expliziten Judenhass getragen werden. In deutschen Städten – allen voran in Berlin – vergeht kein Monat mehr ohne pro-palästinensische Kundgebungen mit beachtlicher deutscher Beteiligung aus der extremen politischen Linken; dort wird dann oft genug „Tod den Juden“ oder ähnliches skandiert.
Im intellektuellen Milieu deutscher Hochschulen kam und kommt es zu lautstarken und zum Teil gewalttätigen Aktionen in Solidarität mit den Palästinensern. An amerikanischen Elite-Universitäten – von Harvard bis Stanford – waren Demonstrationen von Studierenden und Professoren über Monate an der Tagesordnung, in New York an der Columbia University wurden auf dem Campus jüdische Amerikaner arretiert, belästigt und beschimpft. Merkwürdig dabei, dass der Informationsstand der Protestierenden zum Thema „Israel“ zum Teil grotesk dürftig ist. So zeigte vor einigen Monaten ein weit verbreitetes Video eine Kundgebung mit der Forderung nach der Beseitigung Israels: „From the River to the Sea, Palestine will be free.“ Auf die Frage: „Which river, which sea“? wussten die demonstrierenden Studierenden keine Antwort. Wohlgemerkt: an einer sogenannten Elite-Universität! Sie kennen weder die einschlägige Geografie noch die Geschichte. Sie wissen fast nichts.
Das Einzige, an was sich Studierende typischerweise klammern, ist ein vager „Anti-Kolonialismus“: Israel wird als Produkt des bösen Kolonialismus definiert, und die Palästinenser inkl. Hamas und Hisbollah als Repräsentanten einer guten Selbstbestimmung der Völker. Von der Geschichte der islamistischen Muslimbruderschaft, den direkten Vorläufern des heutigen Terrors, wissen sie nichts. Wer kennt schon den noch heute von Palästinensern hochverehrten Großmufti von Jerusalem Amin Al-Husayni, der in den dreißiger und vierziger Jahren eng mit Hitler und den Nazis zusammenarbeitete – mit dem Ziel der Vernichtung der Juden?
Die Herausforderung
Dies alles ist ein tiefer Grund zur Sorge. Noch wird die Erinnerung an die Schoa in Deutschland und anderswo in Europa und Amerika würdevoll begangen, so auch zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in dieser Woche im Deutschen Bundestag. Aber wie lange noch wird die Erinnerung wach bleiben, wenn weiter ein Flächenbrand der naiven Einseitigkeit im Nahostkonflikt vor allem in der jungen Generation des Westens umläuft? Wann schlägt die pauschale Israel-Kritik in einen allgemeinen Judenhass um?
Natürlich ist eine – auch scharfe – Kritik an der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu mehr als berechtigt. Sie wird ja auch u. a. von liberaler Seite in Israel selbst von Yair Lapid und seiner zentristischen Partei Yesh Atid massiv geübt. Die Siedlungspolitik im Westjordanland ebenso wie die drohende Aushöhlung des israelischen Rechtsstaats müssen auf Widerstand stoßen; sie sind nicht hinnehmbar. Aber diese Kritik trifft vor allem die politische und religiöse Rechte des Landes. Sie ist natürlicher Teil eines politischen Richtungskampfs. Sie muss aber vorab zur Kenntnis nehmen, dass Israel überhaupt eine funktionierende Demokratie ist, die einzige im Nahen Osten.
Fazit: Es bleibt eine Menge an Arbeit der Aufklärung zu tun. Daran beteiligen sich glücklicherweise auch viele gemeinnützige Organisationen in Deutschland, die sachliche Informationen über das moderne Israel sammeln und diese weitergeben, wie etwa die Deutsch-Israelische Gesellschaft. Sie stehen vor einem riesigen Berg von Arbeit. Er ist seit dem 7. Oktober 2023 nochmals dramatisch angewachsen. Die optimistischen Hoffnungen meiner Generation sind nicht in Erfüllung gegangen.