Antisemitismus
Vom 9. November 1938 bis heute: „Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist“
In dieser Woche finden zwei Ereignisse statt, die unmittelbar miteinander verbunden sind: Vor wenigen Tagen feierte die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer ihren 103. Geburtstag. Am 9. November erinnern wir an die Folgen der gewaltsamen Judenhetze, die 1938 zum systematischen Niederbrennen jüdischer Geschäfte und Synagogen und dem Tod hunderter Menschen in der Pogromnacht führten. Margot Friedländer hat die Gewaltexzesse als junge Frau in Berlin selbst erlebt. Seit vielen Jahren erklärt sie Schülerinnen und Schüler in Deutschland die Pogromnacht und die folgende Shoah – und sie ist erschüttert, dass seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel der Judenhass auf Deutschlands Straßen sehr präsent ist. Auf die Frage, ob die heutigen antisemitischen Übergriffe sie erschrecken, antwortete sie: Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist.
Das Ende aller Illusionen
Doch es ist möglich und es passiert – im Nahen Osten, in Europa, in Deutschland. So wie Friedländer den 9. November 1938 in ihrer Autobiografie als schmerzhaftes Ende aller Illusionen bezeichnet, so war der 7. Oktober 2023 das schmerzhafte Ende aller Illusionen, dass Pogrome gegen Juden heutzutage nicht mehr möglich wären. Die erschreckenden Zahlen sind bekannt: Mehr als tausend Jüdinnen und Juden wurden an diesem Tag von der Hamas brutal ermordet, Hunderte verschleppt, Tausende verletzt und traumatisiert.
Seither findet in Teilen unserer Gesellschaft eine groteske Verdrehung von Tatsachen statt. Anstatt sich mit den historischen Wurzeln des Judenhasses oder den aktuellen machtpolitischen Gegebenheiten in Iran, Israel, Libanon und Gaza auseinanderzusetzen, werden Juden für die chaotischen Zustände im Nahen Osten und darüber hinaus verantwortlich gemacht. Nicht etwa die Terroristen der Hamas oder ihre Schutzmacht, die Mullahs im Iran, tragen nach dieser verqueren Logik die Schuld, sondern die jüdischen Opfer des 7. Oktobers und der Staat, der an diesem Tag überfallen wurde.
Die Wiederkehr der Täter-Opfer-Umkehr
Diese Täter-Opfer-Umkehr erinnert an die Propaganda der Nationalsozialisten rund um die Pogromnacht vom 9. November. Damals stellten die Nationalsozialisten Juden als Provokateure dar, die die Gewalt durch das Attentat auf den Diplomaten Ernst vom Rath angeblich selbst verursacht hätten. Nach dem 7. Oktober versuchte die Hamas, ihren Pogrom zu rechtfertigen, indem sie ihn als legitimen Widerstand gegen eine gewalttätige Unterdrückung durch Zionisten darstellt.
Dieses Narrativ fiel auf fruchtbaren Boden: Wieder einmal wurden Jüdinnen und Juden zum Sündenbock gemacht – mit Folgen, die sie nicht nur in Israel, sondern überall auf der Welt zu spüren bekommen: In Deutschland wurden allein im ersten Halbjahr 2024 fast 2.000 antisemitische Straftaten erfasst. Jüdinnen und Juden haben wieder Angst, auf die Straße zu gehen.
Antisemitische Stereotype und der Hass gegen Juden waren in unserer Gesellschaft stets vorhanden. Eine kürzlich veröffentlichte Dunkelfeldstudie aus Nordrhein-Westfalen zeigt auf, wie weit verbreitet antisemitische Einstellungen und Vorurteile gegenüber Juden in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland sind: Bis zu einem Viertel der nordrhein-westfälischen Bevölkerung weist gefestigte antisemitische Einstellungen auf.
Seit rund einem Jahr werden diese Einstellungen und der Hass gegen Juden so offen wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik zur Schau gestellt. Selbst in vermeintlich progressiven Milieus an Universitäten und im Kulturbetrieb haben antisemitische Äußerungen Konjunktur. Es ist die gedankliche und rhetorische Fortführung eines Jahrhunderte alten Ressentiments gegen Juden, das immer wieder in Gewaltexzessen kulminiert – so auch am 9. November vor 86 Jahren.
Die Welt ist heute eine andere. Der Staat Israel existiert und schützt jüdisches Leben. Doch wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: Jüdinnen und Juden überall auf der Welt sind bedroht. Mehr als hunderttausend Raketen und möglicherweise in naher Zukunft Atomwaffen im Iran bedrohen die Existenz Israels. Wir müssen sie mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln schützen, damit es nicht irgendwann wieder heißt: Wir hätten nie gedacht, dass das möglich ist.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.