EN

12 Artikel von Memmingen
„Die Bauern sind auf!“ Die Memminger Zwölf Artikel von 1525 – Manifest für Freiheit und Menschenrechte

Originaldruck der "Zwölf Artikel" aus Memmingen aus dem Jahr 1525 am 19. Februar 2020 in Memmingen.

Originaldruck der "Zwölf Artikel" aus Memmingen aus dem Jahr 1525 am 19. Februar 2020 in Memmingen.

© picture alliance / KNA | Christopher Beschnitt

März 1525: Dichtes Gedränge im oberen Stockwerk der Kramerzunft, zentral gelegen am Weinmarkt der oberschwäbischen Reichsstadt Memmingen – die fünfzig Vertreter der großen „Bauernhaufen“, wie es damals hieß, diskutierten und stritten seit mehreren Tagen über ihre Forderungen an die Herrschaft. Sie repräsentierten mehr als 10.000 Bauern in der weiteren Region bis hinunter zum Bodensee.

Schon seit Monaten gärte es unter den bäuerlichen Schichten, die mit acht Millionen Menschen den größten Teil der Bevölkerung in den deutschen Territorien bildeten. Gerade die soziale Lage der kleineren Bauern hatte sich in den Jahrzehnten zuvor erheblich verschärft. Vom Bevölkerungswachstum und der europaweit günstigen Agrarkonjunktur profitierten nämlich vor allem die Grundherren und größeren Gutswirtschaften; vielfach hatten die Grund- und Leibherren die Frondienste und Abgaben der Bauern erhöht. So nahmen insbesondere in den Gebieten mit Erbteilung die sozialen Spannungen zu; diese Regionen bildeten dann auch Zentren der Bauernbewegung. Unmut und Unruhe unter den ärmeren Bauernschaften wuchsen, hinzu kam, dass in der Umbruchszeit der Reformation die überlieferten Weltbilder und tradierten Institutionen ohnehin schon in Zweifel gerieten.

Hunderte Beschwerdebriefe der Bauern an Grundherren, Bischöfe und Gerichte gingen der Volkserhebung voraus, doch sie blieben fast immer vergeblich. Auch Gewalt der Bauern – „Klostersturm“ und „Burgenbruch“ – hatte es gegeben. Auf der anderen Seite war die Herrschaft, die im Schwäbischen Bund organisierte Fürstenmacht und deren Verwaltung im nahen Ulm, zu keinen Kompromissen bereit, heuerte vielmehr Söldner an, um den Krieg mit den Bauern aufzunehmen.

In dieser Situation mündeten die Beratungen in der Memminger Zunftstube im März 1525 allen Widrigkeiten zum Trotz in einen so großen Erfolg, dass man später von einer „verfassunggebenden Versammlung“ (Peter Blickle) sprach: Die von Sebastian Lotzer abgefassten „Zwölf Artikel“ sowie die „Bundesordnung“ des von den Bauern mit Eid bekräftigten Bündnisses waren weitaus mehr als bloß Klagen; sie zeugen vielmehr vom Freiheitswillen der Bauern und vom Traum einer neuen Rechtsordnung. Und diese neuen Prinzipien wurden weithin geteilt; die Zwölf Artikel erreichten in kürzestes Zeit jeden Winkel des Landes, wurden in mehr als 25.000 Exemplaren gedruckt, verteilt, in Familien und auf Marktplätzen vorgelesen: eine der populärsten Flugschriften ihrer Zeit. Die mediale Dynamik förderte auch die räumliche Ausdehnung der bäuerlichen Empörung, die schließlich im Mai 1525 von Oberösterreich bis zur Grenze nach Frankreich, von Italien bis nach Franken und weit ins Sächsische und Thüringische reichte.

Die Zwölf Artikel waren Reformprogramm und revolutionäres Manifest zugleich: Sie waren natürlich auch ein Forderungskatalog aufständischer Bauern gegen verschärfte Ausbeutung und Übergriffe der adligen Grundherren. In dieser Funktion wendeten sie sich gegen herrschaftliche Willkür und zielten auf die Milderung der wirtschaftlichen Belastungen und Fron, das Recht zur Fischerei und Jagd sowie die Nutzung des Waldes. Revolutionär war das Programm aber, weil es im Erfolgsfall die geltende Herrschaft von Grund auf umgestaltet und durch eine kommunal-föderative Ordnung neu justiert hätte. Das in den Artikeln postulierte Recht auf persönliche Freiheit und gemeindliche Verantwortung hätte die überlieferte Grundherrschaft entscheidend geschwächt, wenn nicht beseitigt. In der Praxis hieß dies konkret: Aufhebung der Leibeigenschaft, freie Pfarrerwahl, Zuständigkeit der Gemeinde für die Verwaltung der Zehntabgabe und für die Bewirtschaftung der gemeinsamen Ressourcen. Für die Legitimation dieser angestrebten Neuordnung nahmen die Bauern den reformatorischen Impetus auf und bezogen sich auf das „göttliche Recht“, das Wort des Evangeliums, wie es mehrfach in den Zwölf Artikeln betont wird. Das gab den Leitsätzen eine universelle humanitäre Wendung, denn kein lokales oder sonstiges durch menschliche Hierarchien begründete Sonderrecht könne die an „göttliches Recht“ gebundenen universalen Prinzipien außer Kraft setzen.

So brachen die Zwölf Artikel mit der alten Ordnung und intonierten eine neue, die auf der Gleichberechtigung aller Menschen und der Anerkennung ihrer Menschenwürde beruhte. Im Selbstverständnis der bäuerlichen Volkserhebung wurden hier zwei Elemente wirksam, die weit in die Zukunft wiesen: Zum einen der zeitgenössische reformatorische Aufbruch mit seiner ungeheuren Dynamik und Leidenschaft. Kaum eine Gemeinde, in der nicht diskutiert, gestritten und abgestimmt wurde, wie man sich zur religiösen Erneuerung stellen solle. Auch in Memmingen gingen der Bauernversammlung seit Ende 1524 zahlreiche Streitgespräche zwischen Rat, Bürgern und Theologen voraus, bis sich die Stadt für die neue Ordnung entschied und von der katholischen Messe zur reformatorischen Predigt überging. Die Kritik Martin Luthers am Zustand der Kirche und ihrer weltlichen Obrigkeit hatte bei vielen Bauern zunächst die Hoffnung auf eine neue gerechtere Ordnung der Freiheit auch im irdischen Dasein geweckt.

Nicht weniger entscheidend für den Charakter der bäuerlichen Erhebung war ein zweites, die Orientierung an der mittelalterlichen Tradition der Brüderlichkeit, der durch Schwur und Eid verbundenen Gemeinde. Faktisch wirkte sich dies auf die Repräsentation der Bauerngemeinden in den Landtagen der Territorien und die politische Emanzipation der Bauern aus. Diese auf freiwilligem Zusammenschluss beruhende communis förderte bäuerliche Solidarität und bereitete den Boden für das erhoffte kommunale Ordnungsmodell, das Selbstverwaltung, Partizipation und gemeinschaftliche Ressourcennutzung erlauben sollte.

Nun hatten die Memminger Zwölf Artikel, die revolutionäre Emanzipationsbewegung der Bauern, an der auch Frauen aktiv beteiligt waren, damals keinen durchschlagenden Erfolg. Im Gegenteil, der Aufstand – und damit auch die Neuordnungsabsichten der Bewegung – wurde von den Fürsten, weltlichen wie kirchlichen, mit großer Gewalt niedergeschlagen. Immerhin überdauerten in einigen Landesteilen, in Gemeinden und kleineren Herrschaften manche der Reformen. Aus heutiger Sicht besteht aber kein Zweifel: Mit ihrer Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte wiesen die Zwölf Artikel über ihre Zeit hinaus. Der Begriff selbst wird in den zeitgenössischen Dokumenten zwar nicht genannt, doch um nichts anderes ging es, wenn damals im Namen Gottes Entrechtung, Leibeigenschaft und Ausbeutung angeklagt wurden.

Wenn wir uns heute dieses Geschehens vor einem halben Jahrtausend erinnern, sollten wir präzise sein: Nicht die bloße Beteiligung großer Massen an Protesten und Widerspruch zur Obrigkeit sollte im Zentrum der Erinnerung stehen, sondern die Selbstermächtigung der Menschen, für eine Ordnung zu kämpfen, in der jedem Individuum in gleichem Maße Rechte zukommen und diese in einer auf freier Entscheidung beruhenden Gemeinschaft gewährleistet werden. Diese Elemente der Zwölf Artikel und der Bundesordnung wirkten zurecht leitbildend für spätere Verfassungsdiskussionen in Amerika und Frankreich.   

Bei Medienanfragen kontaktieren Sie bitte:

Florian von Hennet
Florian von Hennet
Leiter Kommunikation, Pressesprecher
Telefon: + 4915202360119
Close menu