Antisemitismus
Was in Deutschland gerade passiert, ist einfach unerträglich

von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Pro-palaestinensische Grossdemonstration
© picture alliance / Caro | Trappe

Diese Bilder gingen um die Welt: Schwerbewaffnete Terroristen ziehen am 7. Oktober von Haus zu Haus, um Juden wahlweise zu entführen oder zu ermorden. Über 1.200 Menschen fielen dem Pogrom der Hamas zum Opfer. Tausende wurden verletzt und traumatisiert. Entsprechend groß war das Entsetzen, ebenso wie die Welle der Solidarität. Von Washington bis Warschau sicherten Regierungen Israel ihre Unterstützung zu. Pro-Israel-Demonstrationen mit tausenden Teilnehmern wurden organisiert. Und der Kampf gegen Antisemitismus rückte wieder auf die politische Agenda.

Die Gräueltaten der Hamas und der signifikante Anstieg antisemitischer Straftaten rief vielen Menschen in Erinnerung, welche furchtbaren Konsequenzen der Antisemitismus für Juden überall auf der Welt, nicht nur in Nahost, haben kann. In Deutschland verzeichnen die Behörden einen dramatischen Anstieg politisch motivierter Straftaten – der Verfassungsschutzchef spricht zurecht von einer Zäsur.

Gerade findet eine gefährliche Diskursverschiebung statt

Die logische Konsequenz aus dieser erschreckenden Entwicklung wäre eine intensive Diskussion über die Frage, wie Antisemitismus nachhaltig bekämpft und jüdisches Leben besser geschützt werden kann. Stattdessen findet eine bedenkliche Diskursverschiebung statt: Nicht mehr der Terror der Hamas und die tödliche Gefahr des Antisemitismus stehen im Zentrum der gesellschaftlichen Debatte, sondern die Reaktion Israels auf diesen Angriff. Dabei wird neben abwägender Kritik am Vorgehen der israelischen Streitkräfte immer wieder offener Antisemitismus zur Schau gestellt, den auch Vertreter aus vermeintlich progressiven Kreisen unreflektiert verbreiten.  

So wird Israel nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen – vielmehr wird es beschuldigt, einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung zu verüben. Unter dem Vorwand der Differenzierung werden die Verbrechen der Hamas relativiert, gar als Akt in einem angeblichen Befreiungskrieg gegen Kolonialisten glorifiziert. Kerngedanke dieser Argumentation ist, dass Israel letztlich selbst schuld an der Katastrophe vom 7. Oktober sei.

Es sind diese Denkmuster, die dazu führen, dass in Berlin eine Synagoge mit einem Molotowcocktail beworfen wird. Dass in Dortmund Neonazis eine Flagge mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück“ aus dem Fenster hängen. Und dass überall im Land junge Menschen, oft mit Migrationshintergrund, durch die Straßen ziehen, antiisraelische Parolen skandieren und das Kalifat fordern.

Kampf gegen Antisemitismus ist ein essenzieller Bestandteil der liberalen Identität

Für Liberale ist es unabdingbar, sich diesem Antisemitismus entgegenzustellen. Dies ist nicht nur ein moralisches Gebot, sondern auch ein essenzieller Bestandteil der liberalen Identität. Denn jeder antisemitische Vorfall, jeder Angriff auf Jüdinnen und Juden, ist nicht nur ein direkter Anschlag auf deren Würde und Rechte, sondern zugleich auch auf die Prinzipien des Liberalismus: die unantastbare Menschenwürde, den Pluralismus und die unveräußerlichen Rechte des Individuums.

Sie bilden einen fundamentalen Gegensatz zum Antisemitismus, der die demokratischen Grundsätze unserer Gesellschaft nicht nur ablehnt, sondern diese herausfordert und gefährdet. Liberal zu sein bedeutet daher nicht nur, kein Antisemit zu sein. Liberal zu sein bedeutet auch, Antisemitismus aktiv zu bekämpfen.

Für einen Liberalen kann es nur unerträglich sein, wenn die historische Verantwortung Deutschlands für über sechs Millionen ermordete Juden relativiert wird. Wenn jüdische Kindergärten, Schulen und Synagogen unter polizeilicher Bewachung stehen müssen. Wenn Holocaustüberlebende nur noch mit Personenschutz öffentlich auftreten können. Ebenso unerträglich ist es, wenn der Staat Israel unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit dämonisiert und delegitimiert wird.

Unsere Solidarität muss Israel und der Zivilbevölkerung im Gazastreifen gelten

Als Liberale gilt unsere Solidarität Israel. Sie muss aber auch der Zivilbevölkerung im Gazastreifen gelten. Diese Solidarität gründet nicht auf Israels militärischen Maßnahmen gegen die Hamas, sondern darauf, dass die Menschen seit sechzehn Jahren von dieser Terrororganisation unterdrückt und ausgebeutet werden. Kein Liberaler kann akzeptieren, wenn Menschen unterdrückt und ihrer Rechte beraubt werden.

Die Solidarität mit Israel bedeutet selbstverständlich nicht, dass die israelische Regierung für ihr Handeln nicht kritisiert werden dürfte. Im Gegenteil: Ein aufgeklärter Liberalismus hinterfragt Regierungshandeln und zeigt eine gesunde Skepsis gegenüber Obrigkeiten.

Die israelischen Regierungen unter Führung Benjamin Netanyahus haben mit dem systematischen Ausbau von Siedlungen im Westjordanland und dem Angriff auf die unabhängige Justiz schweren Schaden angerichtet. Doch wer das Massaker vom 7. Oktober damit rechtfertigt und die Hamas als Befreier glorifiziert, verkennt den ideologischen Vernichtungswahn, dem diese Gruppierung verfallen ist.

Wer das Existenzrecht Israels in Frage stellt, kann sich dem Liberalismus nicht bedienen

Der Terror resultiert aus einem tief verinnerlichten Hass, der sich nicht allein gegen Israel richtet. Das in ihrer Gründungscharta verankerte Ziel der Hamas ist die Auslöschung alles jüdischen Lebens. Wer also angesichts des Hamas-Terrors die historische Verantwortung der israelischen Regierungen von David Ben-Gurion bis Benjamin Netanyahu erörtert, sollte sich klarmachen: Israel, die einzige Demokratie in der Region, muss jeden Tag um das eigene Überleben kämpfen.

In diesen Zeiten moralischer Komplexität und ethischer Vielschichtigkeit bietet der Liberalismus einen Kompass: Er verpflichtet zum Kampf gegen den Antisemitismus – egal ob er von rechtsradikalen Reichsbürgern, linken selbsternannten Antikolonialisten oder palästinensischen Befreiungsideologen kommt. Und er verpflichtet zu einer klaren Haltung zum Existenzrecht Israels. Wer dies infrage stellt, sollte sich nicht mit dem Prädikat des Liberalismus schmücken.

 

Dieser Artikel erschien erstmals am 23. November 2023 bei Focus Online.