Mercosur-Gipfel 2022
Streit um mehr Freihandel
Der Haussegen hängt schief in der Mercosur-Staatenfamilie, soviel ist nach dem diesjährigen Gipfel am 21. und 22. Juli in Paraguays Hauptstadt Asunción klar. Angespannt war die Atmosphäre schon im Vorjahr, als man sich Covid-bedingt noch virtuell traf. Die Protagonisten damals wie heute: Argentiniens peronistischer Präsident Alberto Fernández und Uruguays konservativer Staatschef Luis Lacalle Pou.
Konflikte auf offener Bühne waren in der Geschichte des 1991 gegründeten Mercosur – eine Kurzform von Mercado Común del Sur, zu Deutsch: gemeinsamer Markt des Südens – eher die Ausnahme. Bei Gipfeln war man vor allem um Harmonie bemüht, zumindest nach außen. Diese Zeiten scheinen vorbei. Montevideo will, kurz gesagt, mehr Handel wagen, Buenos Aires weniger. Uruguays eigentlich nur der Gründungsidee verpflichtete öffnungsorientierte Position wird von Paraguay und, mit Einschränkungen, von Brasilien mitgetragen. Brasilien mit seinen gut zweihundert Millionen Einwohnern ist dabei in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Das Land verfügt über den größten Binnenmarkt Lateinamerikas. Es steht daher nicht ganz so stark unter Druck wie Paraguay und sein ebenfalls konservativer Präsident Mario Abdo Benítez, der auf der Suche nach Absatzmärkten vor allem für seine Agrarproduktpalette – Rindfleisch, Soja und aus der Maniok-Wurzelknolle hergestelltes Bier – jenseits der nationalen Grenzen ist.
Vor allem eine Marionette seiner Stellvertreterin
Präsident Fernández kam bereits sichtlich angeschlagen nach Asunción. Die Dauerkrise in Argentinien, die galoppierende Inflation, der drohende neuerliche Staatsbankrott, die zunehmenden Proteste auf den Straßen von Buenos Aires, all das hat ihn zermürbt. Zudem hält man ihn längst nicht nur in der Opposition vor allem für eine Marionette seiner Stellvertreterin Cristina Kirchner, die das Präsidentenamt von 2007 bis 2015 selbst innehatte, und der nachgesagt wird, sie habe ihm bei den Wahlen vor knapp drei Jahren bei der Kandidatur nur deshalb den Vortritt gelassen, weil sie die geringeren Erfolgschancen gehabt hätte.
Schon in ihrer Zeit an der Staatsspitze hatte Kirchner einen wirtschaftspolitischen Kurs eingeschlagen, der ausländisches Kapital gezielt aus dem Land fernhielt. Obwohl Argentinien mit Produkten aufwarten kann, die international wettbewerbsfähig sind – Rindfleisch, Weizen, Soja oder Wein –, hält auch die aktuelle Regierung in Buenos Aires weiterhin an protektionistischen und paternalistischen Prinzipien fest und etikettiert diesen Ansatz als Schutz der heimischen Wirtschaft.
Fehlende Bereitschaft, Handelshemmnisse abzubauen
Die Gründungsgeneration des Mercosur hatten in den 1990er Jahren noch ein klares Bekenntnis zur Öffnung der nationalen Wirtschaftsräume und zur Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes abgelegt. Vorbild dabei war die Europäische Union. Tatsächlich wurde der Austausch zwischen den Mitgliedsländern zunächst intensiviert. Der Rückschlag kam um die Jahrtausendwende, befeuert von den Wirtschaftskrisen in Brasilien und Argentinien sowie dem Auftritt von Venezuelas despotischem Staatschef Hugo Chávez, hinter dessen Mantra vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts" sich viele seiner Kolleginnen und Kollegen aus Lateinamerika versammeln sollten.
Venezuela wurde Ende 2016 wegen massiver Verstöße gegen die Menschenrechte aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Heute bietet der Mercosur den Menschen vor allem die Möglichkeit, sich in der Region ohne Reisepass zu bewegen. Das ist nicht nichts, allerdings deutlich weniger als das, was als Vision einst entwickelt worden war. Zwar wurden anfänglich Handelshemmnisse abgebaut, aber eine Zollunion und damit ein vollwertiger Binnenmarkt wurde nie geschaffen. In Argentinien zum Bespiel sind Produkte aus den anderen Mercosur-Staaten – Kaffee oder Schokolade aus Brasilien, das bereits erwähnte Maniok-Bier aus Paraguay oder eine populäre Marke des Mate-Tees aus Uruguay – wegen der nach wie vor existenten Einfuhrbeschränkungen kaum verfügbar. Umgekehrt sind in Brasilien Rindfleisch oder Wein aus Argentinien völlig überteuert. Darüber hinaus fällt bei der Abwicklung des Im- und Exportgeschäfts immer noch viel zu viel Bürokratie an. Und schließlich sehen sich die beiden mit Abstand größten Mercosur-Länder – Brasilien und Argentinien mit zusammen rund neunzig Prozent des BIP und 95 Prozent der Einwohner – immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, die Allianz vor allem als Schutz vor globaler Konkurrenz zu missbrauchen.
To-do-Liste wird nicht zielstrebig abgearbeitet
Mittelfristig müssen die Mercosur-Staaten allerdings auch ihr Produktfortfolio erweitern und ausdifferenzieren. Exportiert werden bislang vor allem Agrargüter. Deren Weltmarktpreise sind starken Schwankungen unterworfen, mit Konsequenzen, die nicht zuletzt die argentinische Wirtschaft mehrfach zu spüren bekommen hat. Überdies machen sich die Mitgliedsstaaten auf zu vielen Produktfeldern gegenseitig Konkurrenz, zum Beispiel im Fleischsektor. Das erschwert den Ausbau des Binnenmarkts genauso wie das Bemühen um eine Erschließung von Absatzmärkten jenseits der Bündnisgrenzen.
Dass diese To-do-Liste nicht zielstrebig abgearbeitet wird, liegt wesentlich an den ideologischen Differenzen der politischen Akteure. Mit Fernández und Lacalle Pou zum Bespiel, kamen im Dezember 2019 bzw. im März 2020 zwei Staatschefs ins Amt, die hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Positionierung unterschiedlicher kaum sein könnten. Schon beim Gipfel 2021 waren die beiden aneinandergeraten. Lacalle hatte seinem Kollegen aus Buenos Aires bereits damals vorgehalten, das Potenzial des Mercosur nicht erkennen zu wollen. Für Fernández muss Uruguay eine einzige Provokation darstellen. Die Institutionen genießen dort noch Respekt. Die Wirtschaft erholt sich von der Covid-bedingten Entschleunigung der vergangenen beiden Jahre. Und immer mehr argentinische Unternehmen schließen ihren Standort in Buenos Aires und wagen den Neuanfang auf der anderen, uruguayischen Seite des Río de La Plata, des Silberflusses, der einen Teil der Grenze zwischen den beiden Ländern bildet.
Peking bereits jetzt wichtigster Handelspartner des Mercosur
Lacalle Pou stand im Vorfeld des diesjährigen Gipfels allerdings selbst in der Kritik. Anlass war seine Ankündigung, mit dem Vereinigten Königreich und der Volksrepublik China in Gespräche über Handelsabkommen einzutreten. Peking ist bereits jetzt der wichtigste Handelspartner des Mercosur. Rund dreißig Prozent der Exporte und knapp ein Viertel der Importe entfallen auf die Volksrepublik. Mehr als die Hälfte des uruguayischen Fleischexports geht in die Volksrepublik. Zum Vergleich: Für Argentinien ist nach wie vor Nachbar Brasilien wichtigstes Abnehmerland (15 Prozent). China folgt erst auf Platz zwei, mit rund zehn Prozent.
Für Ärger hat der Vorstoß zunächst deshalb gesorgt, weil die Mercosur-Mitglieder über entsprechende Verhandlungen nur gemeinsam entscheiden können. Mag sein, dass Argentinien mit seiner lautstarken Kritik an der Initiative des Nachbarn die eigenen innenpolitischen Dramen zumindest für den Moment des Gipfeltreffens übertönen wollte. In der Sache war und ist sie berechtigt. Genauso nachvollziehbar ist der Frust, aus dem heraus sich Uruguay China gegenüber weiter öffnen will. Der Westen zeigt imgrunde dem kompletten Kontinent schon seit geraumer Zeit die kalte Schulter. Die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens zwischen EU und Mercosur wird in Brüssel verschleppt. Der Posten des US-Botschafters in Montevideo ist seit dem Amtsantritt von Präsident Biden vakant. Dass sich das politisch, wirtschaftlich und sozial wahrscheinlich stabilste Land Lateinamerikas noch stärker als bisher mit der freiheitsverachtenden Einparteiendiktatur China einlassen will, sollte der Westen tunlichst als Weckruf begreifen.
Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Buenos Aires. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen die Länder Argentinien und Paraguay. Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im FNF-Büro Buenos Aires. Aiko Vredenborg studiert Geschichte an der Universität Potsdam und absolviert derzeit ein Praktikum im FNF-Büro Buenos Aires.