Coronavirus
Hotspot-Maßnahmen ohne Wirkung
Die empirische Sozialwissenschaft liebt kontrollierte Experimente. Darunter versteht man die Einführung von Maßnahmen für einen Teil der Bevölkerung bei gleichzeitiger Nicht-Einführung im Rest der Bevölkerung, der als sogenannte Kontrollgruppe dient. Gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich der behandelte und der nicht-behandelte Teil der Bevölkerung in den für die Fragestellung relevanten Charakteristika systematisch unterscheidet, lässt sich dann nämlich ziemlich gut ermitteln, wie die „Behandlung“ gewirkt hat.
Ein solches kontrolliertes Experiment hat jüngst in Deutschland stattgefunden. Das neue Infektionsschutzgesetz erlaubt es, für wohldefinierte Hotspots restriktive Corona-Regeln einzuführen – durch Recht und Verordnungen auf Landesebene. Die beiden Bundesländer Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern wählten seit Anfang April diesen Weg. Sie definierten sich komplett als „Hotspots“, der Rest der Republik, bestehend aus 14 Bundesländern, tat dies nicht. Ein wunderbares kontrolliertes Experiment, zumal sich die beiden Hotspot-Länder auch noch untereinander massiv unterscheiden: Hamburg als eine Millionenstadt und Metropole, Mecklenburg-Vorpommern als das mit Abstand am dünnsten besiedelte Flächenland.
Das erste Ergebnis liegt nun vor und wurde in BILD und WELT jüngst präsentiert. Der Trend der Entwicklung ist in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern genauso wie in der Kontrollgruppe der anderen 14 Bundesländer – und zwar scharf nach unten mit fast exakt derselben Geschwindigkeit und sogar deren gleichen kleinen Schwankungen.
Daraus folgt: Die Hotspot-Maßnahmen haben nicht geholfen, den Trend nach unten zu verstärken. Sie waren wohl unnötige Einschränkungen der Freiheit.
Offenbar waren andere Faktoren absolut dominant. Genannt wird dabei vor allem das Wetter. In der Tat wissen wir, dass das Corona-Virus die Wärme nicht mag, und es ist nun Mal Frühlingsbeginn mit steigenden Temperaturen. Allerdings fiel der Frühling im Durchschnitt eher kühl aus, so jedenfalls das subjektive Empfinden des Verfassers bei ausgedehnten Walks mit seinem Labrador durch Wald und Flur. Hinzu kommt die simple Tatsache, dass die Inzidenzen im März noch kräftig hochgingen, trotz steigender Temperaturen. Neben dem Wetter spielte also wohl doch die Eigendynamik der Omikron-Corona-Welle eine mächtige Rolle, so wie schon bei anderen Varianten 2020 und 2021. Die Triebkräfte dieser „Wellen“ sind aber weitgehend unbekannt. Sie kommen und gehen – in selbstverstärkender und selbstabschwächender Form, ohne dass wir eine überzeugende wissenschaftliche Theorie über sie haben, die uns eine Prognose ermöglicht, wann sie kommen und wann sie gehen.
All dies erinnert an das Phänomen der Konjunkturprognosen in der Wirtschaftswissenschaft. Im Nachhinein lässt sich „historisch“ beschreiben, wie die Dynamik verlief, aber sie im Vorhinein zu prognostizieren, gelingt fast nie. Und noch weniger gelingt es, kurzfristige Einflussfaktoren zu isolieren und zum Gegenstand politischer Empfehlungen zu machen. Diese bittere Erkenntnis gehört für Volkswirte seit Langem zum wissenschaftlichen Reisegepäck ihrer Empirie.
Vielleicht sollten sich Virologen daran ein Beispiel der Bescheidenheit nehmen. Allzu vollmundig schreiben manche von ihnen nämlich den Maßnahmen der Kontakteinschränkung von Menschen Wirkungen zu, die diese offenbar nicht haben, wie die jüngste Erfahrung Hamburgs und Mecklenburg-Vorpommerns zeigt. Dies heißt natürlich noch lange nicht, dass man gänzlich auf sie verzichten kann, vor allem im Umgang mit vulnerablen Gruppen. Es bedeutet aber, dass man beim Bekämpfen der Pandemie als Ganzem nicht auf sie setzen sollte. Denn die hat eine Eigendynamik, die wir nicht wirklich verstehen – und zwar weder wir normale Menschen als Laien noch die fachlichen Spezialisten aus der Virologie.
Fazit: Es spricht doch vieles für die Freiheit als leitendes Prinzip der Gestaltung unseres Zusammenlebens. Auch und gerade in Zeiten der Pandemie.