Archiv des Liberalismus
Alfons Söllner: ad Hannah Arendt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Hannah Arendt ist zweifelsohne eine der wirkmächtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit ihrem zunächst 1951 auf Englisch und dann 1955 auf Deutsch erschienenen Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ setzte die deutsch-jüdisch-amerikanische Wissenschaftlerin deutliche Akzente in der Totalitarismusforschung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bankrotterklärung totalitärer sozialistischer Systeme schien für viele der Sieg und die Überlegenheit liberaler, demokratischer Modelle offensichtlich und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) gekommen. Doch inzwischen wurde die Welt eines Besseren belehrt. Die Saat des Totalitarismus war keinesfalls vernichtet. Vielmehr erheben etatistische Allmachtsphantasien nach globaler Steuerung wieder ihr Haupt – ganz offensichtlich in Form totalitärer Systeme wie in China, aber auch in Form eines vorgeblich wohlmeinenden Paternalismus globaler „Reset“-Ideen.
Insofern lohnt es, sich weiter mit den Ideen Hannah Arendts zu beschäftigen, so wie es Alfons Söllner in seinem neuen Buch macht. Der bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 an der Universität Chemnitz lehrende Politikwissenschaftler ist ein ausgewiesener Experte der Materie. Als Schüler des renommierten Extremismusforschers Kurt Sontheimer geht Söllner über dessen Forschung hinaus. Er ist ein ausgesprochener Kenner der deutschen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts im allgemeinen und der deutschen Emigration im Besonderen. Insofern ließe sich kaum ein besserer Autor finden, um einige Schlaglichter auf das Leben Hannah Arendts zu werfen.
Das vorliegende Buch ist dabei nicht als umfassende Betrachtung von Arendts Leben und Werk zu verstehen. Vielmehr ist es eine Zusammenstellung von drei längeren Aufsätzen des Autors. Ziel ist es, auf diese Weise einen Zugang zu Hannah Arendt zu erhalten, was freilich nicht die Lektüre ihrer Veröffentlichungen ersetzen kann. Das Buch sollte insofern als eine Art „Appetizer“ gelten, auch wenn Söllners Zielgruppe eher die (vor)gebildeten Leser sind als die breite Masse. Denn es ist nicht immer leicht zu lesen, teils gibt es auch Wiederholungen, was der Tatsache geschuldet ist, dass es sich um drei unabhängig voneinander geschriebene Aufsätze handelt. Dies tut der Sache jedoch keinen Abbruch und ändert auch nichts an der hohen Qualität des Buches.
Der erste Aufsatz „Adieu, la France? – Frankreich im Frühwerk von Hannah Arendt“ widmet sich dem Pariser Exil der Philosophin von 1933 bis 1941 sowie dessen Einflüssen auf ihr Totalitarismus-Buch von 1951. In der Arendt-Forschung ist bislang ihre Pariser Zeit wenig gewürdigt worden. Dennoch kennzeichnete diese „Mischung aus privaten Freundeszirkeln und intellektueller Halböffentlichkeit“ (S. 19) das Milieu, in dem sich Hannah Arendt bewegte und welches sie persönlich und intellektuell prägte. Freilich blieben ihre politischen Neigungen „eher praktischer als theoretischer Natur“, wie Söllner schreibt (S. 23). Doch gibt es wesentliche Motive, die sich später auch in Arendts Totalitarismuskonzeption wiederfinden, darunter den Antisemitismus in der Sozialgeschichte. Nach ihrer dramatischen Flucht bzw. Übersiedlung nach New York nahmen die französischen Erfahrungen neben der spezifisch französischen Ideengeschichte (Nation, Republik und deren Niedergang mit dem ersten Kulminationspunkt der Dreyfus-Affäre) zwar nicht eine entscheidende, aber zumindest eine wichtige Rolle ein. Für Arendt blieb der französische Nationalstaat „Maßstab der europäischen Geschichte“ (S. 59) mit all seinen Irrungen und Wirrungen, was in einer „absteigenden Sympathiekurve“ (S. 60) gegenüber Frankreich endete.
In seinem zweiten Aufsatz „Hannah Arendts Totalitarismus-Buch im Kontext der zeitgenössischen Debatte“ taucht der Autor tief in sein Spezialgebiet der Ideenwelt der Immigranten ein. Ziel ist es, im direkten Vergleich mit anderen großen Werken aus Emigrantenfeder die philosophische Eigenart von Arendts opus magnum zu erkunden. Dabei geht Söllner davon aus, dass man den Entstehungskontext ihres Buches nur aus dreierlei Sicht verstehen kann: (i) in der Einbettung in die gesamte politisch-wissenschaftliche Emigration aus Hitler-Deutschland, (ii) in dessen besonderem und einzigartigem Platz innerhalb dieser emigrantischen Gedankenwelt und (iii) letztlich in der Wirkmacht des Buches für das politische Denken der Nachkriegszeit (S. 73). Interessant ist dabei vor allem die Entwicklung von der Faschismus-/Nationalsozialismus-Debatte der 30er und 40er Jahre hin zur Totalitarismustheorie der 50er Jahre. Dennoch bleibt bei Arendt auch weiterhin die starke Konzentration auf das NS-Unrechtsregime bestehen.
Bemerkenswert ist auch Söllners Vergleich des Arendt-Buchs mit Franz Neumanns Werk „Behemoth“ (1942)[1] und dessen Idee von den vier Säulen der nationalsozialistischen Macht (Partei, Ministerialbürokratie, Armee und Wirtschaftsführung). Neumann sah die Masse der Bevölkerung als eher passiv und machtlos, nicht aber als teils bereitwillige Unterstützer des Regimes, die durch „Lohndumping und Sklavenarbeit“ (S. 87) nur ausgebeutet würden. In der neueren Forschung ist man hier weiter.[2] Doch auch andere Autoren der Emigration wie Ernst Fraenkel, Sigmund Neumann und Carl Joachim Friedrich werden einbezogen. In dieses intellektuelle Umfeld fügt Söllner die Ansichten Hannah Arendts ein, die sich als aufsteigender Stern während der frühen 50er Jahre in diese Debatten einmischte. Wichtig seien dabei folgende Aspekte: (i) die „Singularität und Novität des Totalitarismus“ (S. 98), (ii) dessen „Gesamtdeutung aus dem Geist der deutschen Existentialphilosophie“ (S. 102) sowie (iii) der „sachliche Nutzen der ‚philosophischen Übertreibung‘ für die Totalitarismusanalyse“ (S. 104). Nachdenklich schließt Söllner seinen Aufsatz mit den Worten: „So kindisch und schief es zumal in Deutschland wäre, eine rückwirkende Konkurrenz zwischen den Autoritäten des Zeitgeschichtsbewusstseins zu eröffnen, so provokant – und nicht etwa pietätslos – ist die Überlegung, ob Hannah Arendt die inflationäre Gedächtnispolitik, die sich an die Metapher von der ‚Singularität des Holocaust‘ geheftet hat, mitgetragen hätte“ (S. 107).
Der letzte Artikel mit dem sperrigen Titel „Wollte Hannah Arendt wirklich ein Marx-Buch schreiben? Vom Totalitarismusbuch zu ‚Vita Activa‘“ widmet sich ihrer 1958 zunächst in den USA und dann 1960 in Deutschland erschienenen Sammlung von Essays (1951-1954) sowie deren Umsetzung als Gesamtwerk. Die Antwort darauf fällt nicht eindeutig aus, zumal sich Arendt nur am Rande mit Karl Marx beschäftigte und vielmehr antike Klassiker als Fundierung genommen hatte.
Insgesamt hinterlässt das Buch einen passablen, lesbaren Eindruck. Söllner gelingt es, aus verschiedenen Phasen des Lebens von Hannah Arendt ein in sich stimmiges Buch zu verfassen, welches das Interesse weckt, mehr von der Autorin zu lesen und sich zu fragen, wie sich die Totalitarismusforschung aktuell darstellt.
[1] Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Aktualisierte Neuausgabe, hrsg. von Alfons Söllner u. Michael Wildt. Hamburg 2018.
[2] Verwiesen sei hier nur auf Rainer Zitelmanns wegweisende Studie „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“ (Hamburg 1987), in dem minutiös und geradezu detailversessen Hitlers sozialistische und populistische Politik beschrieben wird, die weit entfernt von einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Organisation gewesen sei.
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Liberale Literatur unter der Lupe 2/22
Zweimal jährlich informiert das Archiv des Liberalismus über Neuerscheinungen zum Thema Liberalismus. Vorgestellt werden diesmal zehn wissenschaftliche Publikationen zu Theorie, Geschichte und Gegenwart des deutschen und internationalen Liberalismus. So auch das neue Handbuch von Michael G. Ferstl, welches alle Spielarten des Liberalismus im Rückblick sowie in der Zukunft analysiert. Woran liegt es, dass der Liberalismus so einflussreich ist? Was ist der Kern des Liberalismus? Keine politische Grundströmung kann es in Sachen Wandlungsfähigkeit mit dem Liberalismus aufnehmen.