Europa
Boris Johnson auf Entfesselungstour
Der britische Premierminister Boris Johnson tourt als politischer Harry Houdini, dem legendären Entfesselungskünstler, durch Europa. Beobachter beidseits des Ärmelkanals verfolgen gespannt, wie er sich aus den Widersprüchen befreien möchte, die er selbst formuliert hat. Seine Stationen sind Berlin, Paris und Biarritz.
Während seines ersten Monats im Amt des Premierministers hatte Johnson vor allem über, aber kaum mit den Verhandlungsführern der Europäischen Union gesprochen. Anfang dieser Woche verschriftlichte der neue Regierungschef dann in einem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk erstmals, was er zuvor schon mehrfach seinem britischen Publikum erklärt hatte: Der backstop, die Rückfall-Versicherung zur Vermeidung von Grenzanlagen auf der irischen Insel, sei undemokratisch und solle aus dem gemeinsamen Austrittsabkommen gestrichen werden. Gleichzeitig erklärte Johnson, seine Regierung fühle sich „dem Frieden, dem Wohlstand und der Sicherheit in Nord-Irland tief verpflichtet und würde niemals Grenzzäune, Überprüfungen oder Kontrollen einführen“.
EU-Ratspräsident Tusk reagierte prompt auf diese widersprüchliche Aussage und ließ verlauten: „Wer gegen den backstop ist, aber keine realistische Alternative bietet, unterstützt letztlich den Aufbau von Grenzanlagen“. Damit hat er freilich vollkommen recht, denn wenn das Vereinigte Königreich die Europäische Union und damit auch den Binnenmarkt und das EU-Zollgebiet verlässt, müssen Güter kontrolliert werden, die zwischen Nordirland und der Republik Irland ausgetauscht werden. Andernfalls könnten Lebensmittelstandards unterlaufen oder Zölle umgangen werden – eine für die Republik Irland und die Europäische Union nicht akzeptable Folge.
Backstop ist notwendig
Boris Johnson steht diese Woche erstmals vor der Herausforderung, seine widersprüchliche Haltung gegenüber den Regierungschefs anderer EU-Mitgliedsstaaten zu vertreten. Die erste Station seiner Reise war gestern das Bundeskanzleramt in Berlin. Das Treffen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel, der dienstältesten Regierungschefin der EU, und dem Novizen Johnson verlief durchaus harmonisch. Merkel antwortete ihrem Amtskollegen bei der gemeinsamen Pressekonferenz, dass „der backstop nur Ausdruck eines nicht gelösten Problems“ sei. „Vielleicht kann man eine Lösung in dreißig Tagen finden“. Sie vergaß allerdings nicht anzufügen, dass „Großbritannien [sagen] sollte, welche Vorstellungen es hat“.
Premier Johnson freute sich offenkundig über die positive Haltung der Kanzlerin und erwiderte nicht ohne britischen Humor, aber auf Deutsch: „Wir schaffen das!“ Die Aussagen der Kanzlerin wurden in manchen britischen Zeitungen schon als mögliches Signal für einen Durchbruch im Brexit-Prozess gedeutet.
Doch eigentlich hat Merkel nur wiederholt, was schon immer feststand: Erstens ist der backstop nur eine Versicherung, falls keine bessere Lösung gefunden wird. Zweitens ist es Aufgabe der Briten, nach einer besseren Lösung zu suchen. Drittens wissen alle Beteiligten, dass es wahrscheinlich keine bessere Lösung gibt. Zumindest konnte sie während der Verhandlungen der vergangenen beiden Jahre nicht gefunden werden, was schon einiges über die Wahrscheinlichkeit aussagt, sie in den nächsten dreißig Tagen zu finden. Daraus folgt viertens – und das stand bei Kanzlerin Merkel nur zwischen den Zeilen – dass der backstop notwendig ist und nicht aus dem Austrittsabkommen gestrichen werden kann.
Besuch bei Macron und zum G7
Mit derselben Botschaft, aber weniger Diplomatie, ging es zu Präsident Emmanuel Macron zum Mittagessen. Dieser hatte seine Haltung gegenüber den Plänen der britischen Regierung schon am Mittwoch in einem zweieinhalbstündigen Interview deutlich gemacht. Die Vorschläge Johnsons zur Streichung des backstops seien „keine Option“. Der britische Premier suggeriere in seinem Brief, dass „man zwischen der Integrität des EU-Binnenmarktes und dem Respekt vor dem irischen Karfreitagsabkommen wählen müsse. Zwischen diesen beiden werden wir nicht wählen“. Mit Blick auf ein mögliches Freihandelsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich warnte er, dass dies für die Briten bedeuten würde, ein politischer und wirtschaftlicher Vasall des transatlantischen Partners zu werden.
Die Aussagen des französischen Präsidenten sind für den britischen Premier wesentlich unbequemer und überbieten jene der Bundeskanzlerin um ein Vielfaches an Klarheit. Dennoch unterscheiden sich Merkel und Macron in ihrer Haltung zum Brexit nur in Stil und Form, aber kaum im Inhalt. Beide stehen klar dazu, dass das Austrittsabkommen nicht neu verhandelt und der backstopnicht gestrichen werden kann. Wie sich Boris Johnson aus seinen Widersprüchen entfesseln möchte, muss er in den nächsten Wochen beweisen.
Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich schon am Wochenende im französischen Biarritz. Dort wird der britische Regierungschef im Rahmen des G7-Gipfels neben Merkel und Macron auch auf einen Mann treffen, mit dem er gerne verglichen wird: US-Präsident Donald Trump. Gastgeber Macron und Bundeskanzlerin Merkel werden sich in dieser Gesellschaft dann ein besseres Bild davon machen können, wo Johnson eigentlich steht: zwischen Populismus und verantwortlichem Regierungshandeln, zwischen Freihandel und Protektionismus und zwischen Multilateralismus und Abschottung.
Sebastian Vagt arbeitet als European Affairs Manager im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.