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Gesellschaft
Trendwende bei jungen Wählern: Wird die AfD zur Volkspartei?

Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann erklärt das Wahlverhalten junger Menschen
Klaus Hurrelmann

Prof Dr. Klaus Hurrelmann

© Hertie School of Governance

Klaus Hurrelmann ist einer der bekanntesten Bildungsforscher Deutschlands. Seit 2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls für „Public Health and Education“ an der Hertie School of Governance. Im Interview spricht er über den Erfolg populistischer und radikaler Parteien unter jungen Menschen bei den Europawahlen – und ob die AfD künftig eine Volkspartei sein wird.

Wahlergebnisse der unter 25-Jährigen bei der Europawahl 2024

Wahlergebnisse der unter 25-Jährigen bei der Europawahl 2024

© FNF

Professor Hurrelmann, nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen vor fünf Jahren haben wir an dieser Stelle über die Frage gesprochen, warum junge Menschen die AfD wählen. In Sachsen hatten damals 21 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für die Partei gestimmt, in Brandenburg waren es 18 Prozent. Dass junge Menschen der AfD zuneigen, ist also kein neues Phänomen. Warum war die Überraschung über das Wahlverhalten junger Menschen bei den Europawahlen trotzdem so groß?

Weil dieses Wahlverhalten eine bedeutende Trendwende markiert. Bei den Europawahlen war die AfD im gesamten Bundesgebiet erfolgreich. Es geht dabei nicht nur um die größere Zustimmung zur AfD in Volumen und Fläche, sondern auch um eine Veränderung der Parteipräferenzen insgesamt. Bei der letzten Bundestagswahl wählten die unter 30-Jährigen bundesweit bevorzugt die Grünen und die FDP. Diese Parteien haben nun deutlich an Unterstützung verloren und liegen abgeschlagen hinter der AfD.

Bei unserem letzten Gespräch nannten sie zwei zentrale Gründe, warum junge Menschen die AfD wählen: Angst vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg sowie Veränderungen in der Nachbarschaft. Diese Themen wurden nach den Europawahlen wieder als Gründe für den Erfolg der AfD unter jungen Menschen genannt. Haben die demokratischen Parteien es verpasst, diese Themen adäquat zu adressieren?

So ist es. Wir beobachten bei den Erstwählern eine starke Themenorientierung ohne ideologische Vorprägung. Parteien werden nüchtern danach bewertet, wofür sie stehen und welche Themen sie in den Vordergrund stellen. Das war lange Zeit das große Plus der Grünen als Umweltpartei und der FDP als Partei für Menschenrechte und Digitalisierung.

Was hat sich seither verändert?

Andere Themen spielen für junge Menschen eine wichtigere Rolle. Es ist nicht die Angst vor einer Klimakatastrophe, die dominiert, sondern wirtschaftliche Unsicherheit, die Verteuerung des Wohnraums und die Angst vor einer Ausbreitung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Sie sorgen sich auch um Migration, insbesondere illegale Einwanderung, und damit einhergehende gesellschaftliche Spannungen.

Diese Themen wurden von den Regierungsparteien aus Sicht vieler junger Menschen nicht adäquat adressiert. Ihnen wird in diesen Bereichen keine große Kompetenz zugeschrieben. Davon haben die Oppositionsparteien profitiert.

Deutschlandweite Stimmenanteile der unter 25-Jährigen im Vergleich zur Europawahl 2019

Deutschlandweite Stimmenanteile der unter 25-Jährigen im Vergleich zur Europawahl 2019

© FNF

Viele der Herausforderungen sind keine neuen Phänomene. Zuwanderung, hohe Inflationsraten oder Sorge vor Krieg gab es auch in den Siebziger-, Achtziger- oder Neunzigerjahren. Trotzdem hat man damals als junger Mensch tendenziell links gewählt.

Der große Unterschied zu früheren Jahrzehnten ist die Grundverunsicherung in der jungen Generation infolge der Corona-Pandemie. Damals ist ein Gefühl von Erschöpfung und Kontrollverlust entstanden. Das ist ungewöhnlich, weil junge Leute meist optimistisch in die Zukunft blicken. Sie sind überzeugt, ihr Leben selbst gestalten zu können. Heute herrscht jedoch ein pessimistischer Grundton vor: Man lebe in Krisenkonstellationen, die die eigene Existenz bedrohen. Das drückt auf die mentale Stimmung und macht junge Menschen ratlos.

In dieser Unsicherheit wachsen Misstrauen und das Gefühl, dass die Regierungsparteien nicht im Interesse der jungen Generation handeln. Das spielt der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht in die Hände. Diese Parteien greifen mit banalen Sprüchen, einfachen Ansagen und Verschwörungsideen die Themen auf, die junge Menschen beschäftigen.

Betrachten diese jungen Wählerinnen und Wähler Populisten oder gar Extremisten tatsächlich als kompetente Problemlöser für soziale und ökonomische Herausforderungen? Oder handelt es sich dabei vor allem um Protest?

Die AfD wird tatsächlich als Partei wahrgenommen, die sich um Themen kümmert, die junge Menschen beschäftigen. Eine historisch neue Komponente ist dabei die digitale Kommunikation. Vor allem unter 25-Jährige beziehen ihre Informationen über das politische Geschehen fast ausschließlich von digitalen Plattformen. Sie sind es gewohnt, Informationen nicht nur passiv aufzunehmen, sondern aktiv abzurufen und mit dem Absender zu interagieren.

Hier hat die AfD, die 2013 im digitalen Zeitalter gegründet wurde, einen Vorteil gegenüber anderen Parteien. Sie ist die digitalste Partei und bietet auf Plattformen wie TikTok direkte Kommunikation und Informationen. Das hinterlässt bei jungen Leuten den Eindruck, dass diese Partei sich wirklich Gedanken macht und leicht erreichbar ist.

Was sagt das über den Zustand der politischen Bildung in unserem Land aus?

In unserer Bildungslandschaft werden die wesentlichen Aspekte von Demokratie – die gepflegte, konflikthafte Auseinandersetzung – nicht ausreichend vermittelt. Es ist daher nicht verwunderlich, aber umso besorgniserregender, dass einfache digital vermittelte Botschaften so erfolgreich sind. Medienkompetenz wird im Schulunterricht und in den allgemeinen Bildungsprozessen viel zu wenig beachtet. Die kompetente Nutzung und kritische Auseinandersetzung mit digitalen Informationen und Plattformen wird nicht systematisch unterrichtet. In diesem Bereich müssen wir uns deutlich verbessern.

Hat die AfD ihr Wählerpotenzial unter jungen Menschen ausgereizt oder wird sie zur Volkspartei?

Keine Präferenz für eine Partei ist zwangsläufig, sie muss immer wieder neu erarbeitet werden – das sehen wir an der Zustimmungswelle für die Grünen während der letzten fünfzehn Jahre. Die aktuellen wirtschaftlichen Sorgen und gesellschaftlichen Spannungen stärken jedoch hauptsächlich die AfD. Die demokratischen Parteien müssen erkennen, dass diese Themen die Menschen beschäftigen und klare Antworten mit konsequentem Handeln verbinden. Wenn sie es schaffen, die Themen der jungen Leute aufzugreifen und glaubwürdige Lösungen anzubieten, können sie die AfD in Schach halten. Gelingt dies nicht, öffnen sie der Partei Tür und Tor.