SCHULEN IM CORONASTRESSTEST
Der Bildungsnation Deutschland droht der Abstieg
Die vergangenen Monate waren für die deutschen Schulen ein Offenbarungseid. Wir brauchen Tempo bei Investitionen, Ferien darf es für Bildungspolitiker nicht geben. Sonst droht ein weiteres Staatsversagen, schreiben Thomas Straubhaar von der Universität Hamburg und Daniel Dettling, der Gründer der Denkfabrik „Institut für Zukunftspolitik“, in ihrem Gastbeitrag.
Seit dem PISA-Schock hat Deutschland in der Bildungspolitik im internationalen Vergleich kaum aufgeholt. In den beiden zentralen Fragen – dem Zugang zu digitalen Lernmethoden und -mitteln sowie der sozialen Durchlässigkeit – haben die deutschen Schulen sogar den Anschluss verloren. Die Schulschließungen der letzten Monate gefährden ökonomische Wettbewerbsfähigkeit wie soziale Gerechtigkeit. Damit aus Corona kein Schock für die deutschen Schulen wird, brauchen diese einen Neustart nach der Sommerpause.
Die vergangenen Monate haben uns an den Rand einer Bildungskatastrophe geführt. Statt über die Wehrpflicht sollte über die Schulpflicht diskutiert werden, die auch die staatliche Verantwortung für den Unterricht einschließt. Statt über das Tempolimit auf Autobahnen zu reden, muss endlich mehr Tempo bei der Ausstattung der Schulen erreicht werden. Die Hausaufgaben liegen auf dem Tisch: Datenschutz, Infrastruktur oder Nachschulungskonzepte – Ferien darf es für die staatliche Bildungsorganisation nicht geben. Zu oft hat man zuletzt den Eindruck gewonnen, dass Bildung in Deutschland keine Priorität hat.
Geschlossene Kita ist keine gute Kita
Die Versäumnisse beginnen bereits bei der frühkindlichen Bildung – eine geschlossene Kita kann keine gute Kita sein, wie sie das Gesetz von Franziska Giffey noch forderte. Doch auch an den Schulen braucht es klare Konzepte, wie das Recht auf Bildung garantiert werden kann. Der Bildungserfolg der Kinder darf nicht vom Engagement der Schulleitungen oder der Lehrkräfte und erst recht nicht von den Kapazitäten der Eltern abhängen. Wenn es dem Staat nicht gelingt, seinem Bildungsauftrag im Schuljahr 2020/21 nachzukommen, droht eine massive Verschärfung der Bildungsungerechtigkeit. Hinzu kommen die langfristen Folgen. Einer der führenden Bildungsforscher, Ludger Wößmann, hat jüngst gezeigt, dass bereits der Verlust von einem Drittel Schuljahr zu einem Verlust von drei bis vier Prozent des späteren Erwerbseinkommens führt. Je jünger die Schüler, desto wichtiger ist der Sozialraum Schule zudem für die persönliche Entwicklung. Der Schaden von Schulschließungen lässt sich hier kaum beziffern. Er ist für Kinder aus ärmeren Familien höher als für Bessergestellte, was besonders ungerecht ist. Im Falle von regionalen Ausbrüchen oder gar einer zweiten Welle muss es daher eine Pflicht zum digitalen Unterricht geben.
Obwohl die Coronakrise eine ungeahnte Belastung für Kinder, Eltern und Lehrkräfte darstellt, haben sich mit Blick auf die lange überfällige Digitalisierung des Lernens neue Chancen aufgetan. Corona ist zum Game-Changer geworden, der das Bildungssystem in seinen Grundfesten erschüttert hat. In Krisenzeiten werden die Weichen für die Zukunft gestellt. In einem Trendguide „Schulen der Zukunft“ geht das Zukunftsinstitut im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung daher nicht nur der Frage nach, wie die größten Bildungsbrandherde gelöscht werden können, sondern nimmt die Zukunft des Bildungssystems nach Corona in den Blick: Globalisierung, Urbanisierung, Konnektivität und eine neue Arbeitswelt sind die vier Megatrends, auf die die Schulen der Zukunft vorbereitet werden müssen. Gelingt es, die Weichen noch richtig zu stellen, tragen diese Trends dazu bei, dass sich die Talente der neuen Generation bestmöglich entfalten können. Wird jetzt nicht gehandelt, droht eine Spaltung der Bildungslandschaft in Gewinner und Verlierer – und der endgültige Abstieg einer einstigen Bildungsnation.
Bildung ist Bürgerrecht
Für die Bildungspolitik bedeutet dies in erster Linie nachsitzen. Denn damit die Lehrkräfte auch unter erschwerten Bedingungen ihren pädagogischen Aufgaben nachgehen können, muss der Staat jetzt die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen auch unter den gegebenen Einschränkungen schaffen. In den Sommerferien muss die für den hybriden Unterricht notwendige digitale Infrastruktur flächendeckend bereitgestellt werden. Lehrkräften sind regelmäßige Fortbildungskurse anzubieten, um sie zu befähigen, den Unterricht von Zuhause aus durchzuführen. Nicht zuletzt sollten gerade für die schwächsten Schüler in den Sommerferien Angebote verfügbar gemacht werden, um die entstandenen Wissenslücken zu füllen.
Die Coronakrise hat verdeutlicht: Der real existierende Bildungsföderalismus ist überfordert. Dafür sind Lehrkräfte und Schülerschaft näher zusammengerückt. Sie haben gemeinsam Neues ausprobiert. Resultat ist eine enorme Experimentierfreudigkeit, die Mut für die Zukunft macht. So günstig war der Zeitpunkt für einen Neustart in der Bildungspolitik seit Langem nicht. Es gilt, diesen Moment zu nutzen für einen mehrfachen Aufbruch: digital, freiheitlich, sozial, demokratisch, pädagogisch und föderal.
Bildung ist Bürgerrecht und Unterrichtsausfall ist Staatsversagen. Die Seichtigkeit der gegenwärtigen Sommerloch-Diskussionen steht in keinem Verhältnis zur gegenwärtigen Gefahrenlage. Bildung ist ein Menschenrecht. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen sieht das genauso. Die künftige Bildungswelt wird sich von der heutigen grundlegend unterscheiden. „Beste Bildung für alle“ geht nur über eine Verbesserung von Bildungszugang, Bildungsqualität und Bildungsgerechtigkeit. Die enorme Wertschätzung, die Schulen und Lehrkräfte zuletzt erfahren haben, macht Mut für die Zukunft und bietet Chancen, neue Wege zu gehen. Jetzt schlägt die Stunde der kreativen Veränderer.
Thomas Straubhaar ist Professor der Universität Hamburg für Internationale Wirtschafts-beziehungen und Direktor des Instituts für Integrationsforschung des Europa-Kolleg Hamburg.
Daniel Dettling ist Gründer der Denkfabrik "Institut für Zukunftspolitik" und Leiter des Berliner Büros des Zukunftsinstituts.
Der Artikel erschien erstmals am 7. August 2020 in der WirtschaftsWoche und ist hier zu finden.