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Die gesellschaftliche Dimension des NSU-Verfahrens

Ein Blick auf die rechte Szene in Deutschland und die Probleme der Sicherheitsbehörden
Dr. Mehmet Daimagüler und Christoph Giesa im Gespräch

Dr. Mehmet Daimagüler und Christoph Giesa

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die rechte Szene bereitet nicht erst seit dem Bekanntwerden des NSU-Terrorismus und dem Aufkommen des Rechtspopulismus der AfD vielen Bürgern Sorge. Zum nahenden Ende des NSU-Prozesses spricht freiheit.org mit Mehmet Daimagüler, Nebenklageanwalt im NSU-Prozess, und Christoph Giesa, Publizist, über die mangelnde Aufarbeitung des rechten Netzwerks im NSU-Prozess und die Herausforderungen für die Gesellschaft durch die rechte Szene.

Herr Giesa, Sie beobachten seit längerer Zeit rechte Politik und rechte Bewegungen in Deutschland. Welche Entwicklungen bereiten Ihnen besondere Sorge?

Giesa: Die zunehmende Salonfähigkeit menschenfeindlicher Parolen in der Mitte der Gesellschaft, ganz klar. Einen gewissen Prozentsatz an Fremdenfeindlichkeit, an Demokratieverachtung, den gibt es leider in jeder Gesellschaft. Wirklich gefährlich wird es, wenn sich diejenigen, die bereit sind, Worten auch Taten folgen zu lassen, wie die Fische im Wasser fühlen können, weil sie Unterstützung weit über einen radikalen Kern hinaus spüren. Der NSU, aber auch Anders Breivik in Norwegen, sind warnende Beispiele für diese Entwicklung.

Als Anwalt von Nebenklägern sind Sie, Herr Daimagüler, am NSU-Prozess beteiligt. Was sind Ihre größten Kritikpunkte am Prozessverlauf?

Daimagüler: Wesentliche Fragen blieben unbeantwortet: Wie groß war oder ist der NSU wirklich? Mit Ausnahme der Bundesanwaltschaft glaubt niemand mehr an die These eines „isolierten Trios“. Welche Rolle spielten Verfassungsschutzbehörden im NSU-Komplex? Schließlich und endlich: Wie groß ist der institutionelle Rassismus, der einem türkischen oder griechischen Opfer nicht erlaubte, Opfer zu sein und der die zahlreichen Hinweise auf zwei deutsch aussehende Fahrradfahrer beiseite schob?

Auf welche Ergebnisse hoffen Sie im NSU-Prozess angesichts des bisherigen Verlaufs noch?

Daimagüler: Ich denke nicht, dass die offenen Fragen noch beantwortet werden. Ich hoffe allerdings, dass die Richter in ihrem Urteil den Rassismus klar benennen: den Rassismus der Nazis, der neun Menschen zum Tode verurteilte und den institutionellen Rassismus, der die Opfer genauso kriminalisierte wie die Witwen und Halbwaisen und ihnen nicht erlaubte zu trauern, der den Toten wie den Lebenden die Würde nahm.

So stark unsere Institutionen auch erscheinen mögen, sind sie doch unendlich verletzlich. Feinde der offenen Gesellschaft bedrohen sie jeden Tag. Deswegen müssen wir uns alle einbringen, bei Wahlen, bei Abstimmungen, bei Bürgerinitiativen, in Vereinen.

Dr. Mehmet Daimagüler
Dr. Mehmet Daimagüler

Welche Lehren über die rechte Szene in Deutschland haben Sie aus dem Prozess gezogen?

Giesa: Ich muss gestehen, ich habe weniger über die rechte Szene als über unseren Staat und seine Sicherheitsbehörden gelernt. Dass der NSU so lange wüten konnte, dürfte vermutlich sogar Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe selbst gewundert haben. Der Wille, eins und eins zusammenzuzählen und Rassismus als Tatmotiv in den Raum zu stellen, hätte viele Todesopfer verhindern können. Stattdessen hat man die Augen verschlossen und später sogar aktiv verschleiert. Das ist für mich als Bürger dieses Landes erschreckend und nicht hinnehmbar. Unter anderem deshalb haben wir die Reihe „NSU-Spurensuche“ aus der Taufe gehoben.

Wie sollen Politik und Gesellschaft in Deutschland zukünftig mit der rechten Szene umgehen? Was erwarten Sie sich hier in Zukunft?

Daimagüler: Wir sollen verstehen, dass unsere Demokratie, unser Rechtsstaat und unsere Verfassung nicht auf Naturgesetzen fußen: Sie sind das Resultat menschlichen Willens und können auch Opfer des menschlichen Willens werden. So stark unsere Institutionen auch erscheinen mögen, sind sie doch unendlich verletzlich. Feinde der offenen Gesellschaft bedrohen sie jeden Tag. Deswegen müssen wir uns alle einbringen, bei Wahlen, bei Abstimmungen, bei Bürgerinitiativen, in Vereinen. Wir müssen kritische Bürger sein, die bei Abgeordneten und bei den Behörden nachfragen und nachbohren, wenn uns etwas aufstößt. Und wir müssen solidarisch sein, vor allem wenn es um Menschen handelt, die anders sind als wir selbst: Als Muslime sollten wir die ersten sein, die sich schützend vor eine Synagoge stellen. Als Männer sollten wir die ersten sein, wenn es um den Kampf gegen Sexismus geht. Als Heteros sollten wir als erste einschreiten, wenn LGBT-Menschen bedroht werden. Als Christen oder Atheisten sollten wir in erster Reihe stehen, wenn Muslime bedroht und Moscheen Ziele des Hasses werden.

Herr Dr. Daimagüler, Herr Giesa, vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Termine der Gesprächsreihe:

  • 16. März - Hamburg
  • 10. April - Eisenach
  • 11. April - Zwickau
  • 12. April - Jena
  • 4. Mai - Lüneburg
  • 7. Mai - Bonn
  • 17. Mai - Köln
  • 11. Juni - Heilbronn
  • 6. September - Hannover