Türkei und Armenien
Kommt endlich der Frühling in den Südkaukasus?

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan sprach mit türkische Journalisten und stellte sich ihren Fragen.
© Büro von PaschinjanSeit einiger Zeit gibt es große Hoffnungen auf eine Annäherung zwischen Armenien und der Türkei, die zur Stabilität im Südkaukasus und zur Förderung des Friedens in der Region beitragen könnte. Als NATO-Mitglied spielt die Türkei eine bedeutende geopolitische Rolle, und eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Jerewan könnte europäische – und damit auch deutsche – Sicherheitsinteressen stärken. Zudem trägt Deutschland eine besondere historische Verantwortung im Zusammenhang mit der armenischen Tragödie von 1915, die seitens seriöser Historiker als Völkermord eingestuft wird.
Auch die Öffnung der seit über dreißig Jahren geschlossenen Grenze zwischen beiden Ländern steht zur Debatte. Eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen könnte Handel und Investitionen in der Region erleichtern, wovon auch Deutschland als wichtiger Partner profitieren würde. Darüber hinaus unterstützt Deutschland Armeniens Annäherung an Europa und könnte durch diplomatische Vermittlung zur nachhaltigen Entspannung zwischen beiden Staaten beitragen.
In der vergangenen Woche lud der armenische Premierminister Nikol Paschinjan überraschend türkische Journalisten ein und stellte sich ihren Fragen. Der Journalist Burak Tatari schildert seine Eindrücke für die Friedrich-Naumann-Stiftung.
Aret Demirci, Projektleiter Türkei.
Armenien – die „fernste Nachbarin“ der Türkei. Dabei liegt die Hauptstadt Eriwan nur zwei Flugstunden von Istanbul entfernt. Doch die gefühlte Distanz ist weitaus größer als die physische. Geschichte, Politik und die geschlossene Grenze, das Fehlen von Direktflügen der Turkish Airlines nach Eriwan – all das macht die Distanz nach Armenien umso größer.
Ein privates türkisches Unternehmen bietet zwar Flüge an, doch der Zeitplan ist alles andere als ideal: Der Flug startet um 23:20 Uhr in Istanbul, sodass Reisende frühestens um 04:00 Uhr morgens in Eriwan ins Bett kommen. Der Rückflug um 05:00 Uhr bedeutet mit der obligatorischen Wartezeit am Flughafen eine schlaflose Nacht. Trotz dieser Umstände gibt es eine beachtliche Zahl an Reisenden zwischen beiden Ländern – die Flugzeuge sind voll.
Auf Einladung des Orbeli Research Center, einer Einrichtung des armenischen Premierministeriums, reisen wir nach Eriwan. Die Teilnehmerliste ist vielfältig: Vertreter staatlicher Medien wie TRT und Anadolu Ajansı, regierungsnahe Fernsehsender sowie Journalisten der oppositionellen Presse. Auch die Zeitung Agos, mitbegründet von dem 2007 ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, ist vertreten. Hauptthema unserer Reise: die mögliche Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen. Ein Interview mit Premierminister Paschinjan ist nicht vorgesehen.
Unsere Reise war ursprünglich für den 8. Dezember geplant, wurde jedoch verschoben – just an dem historischen Tag, an dem die 54-jährige Herrschaft von Baschar al-Assad in Syrien endete und die von HTS geführten Oppositionskräfte Damaskus einnahmen. Schließlich starten wir Anfang März mit der Erwartung, dass entscheidende Schritte zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Eriwan sowie zwischen Baku und Eriwan angekündigt werden könnten – aus diesem Grund wird diese Reise von allen Teilnehmern mit großer Spannung gewartet.
Unter den Journalisten sind einige erfahrene Armenien-Reisende, die bereits vier- bis fünfmal dort waren. Andere, wie ich, betreten zum ersten Mal armenischen Boden. Am ersten Abend erfahren wir überraschend, dass wir am nächsten Morgen Premierminister Nikol Paschinjan interviewen werden. Zehn Journalisten dürfen jeweils eine Frage stellen – ohne Nachfragen oder Kommentare. Das Interview wird live im Staatsfernsehen übertragen. Es ist das erste Interview überhaupt, das Paschinjan türkischen Journalisten gibt.
Der erste Tag ist geprägt von Hintergrundgesprächen, unter anderem mit dem stellvertretenden Außenminister und dem Sonderbeauftragten der armenischen Regierung. Wir erkunden Eriwan, tauchen in die politische Atmosphäre ein und speisen in Restaurants mit türkisch klingenden Namen wie Lavasch oder Şeref, wo uns auffällt, wie sehr die armenische Küche der anatolischen ähnelt.

„Die Normalisierung ist nur noch eine Frage der Zeit“
Am zweiten Tag legen wir unsere Anzüge an und fahren zum Regierungssitz. Nach strengen Sicherheitskontrollen – Uhren, Handys und Geldbörsen müssen draußen bleiben – beginnt das Interview. Am Abend zuvor hatten wir unter uns die Fragen abgestimmt, damit wir uns nicht wiederholen. Nach knapp 20-25 Minuten Wartezeit kommt Paschinjan in den Saal, in dem das Gespräch stattfinden soll.
Ich stelle die erste Frage: Wo stehen wir aktuell im Normalisierungsprozess? Und wenn Sie eines Tages die Politik verlassen, welche Hinterlassenschaft möchten Sie in den türkisch-armenischen Beziehungen hinterlassen?
Paschinjan zählt die bisherigen Fortschritte auf: die Teilnahme an der Vereidigung von Präsident Erdoğan, diplomatische Annäherungen nach dem Erdbeben, die Ernennung von Sonderbeauftragten. „Ich konnte nun sieben Minuten lang über den Stand der Normalisierung sprechen. Vor sieben Jahren hätte ich nicht einmal eine Minute füllen können.“ Sein Fazit: „Die Normalisierung mit der Türkei ist nur noch eine Frage der Zeit.“
Er wirkt während des gesamten Gesprächs offen, freundlich und gut gelaunt. Die ursprünglich auf 30 Minuten angesetzte Diskussion dauert schließlich anderthalb Stunden. Auffällig ist seine Wortwahl – er vermeidet Begriffe, die Ankara provozieren könnten. Überraschend ist auch seine Aussage, dass die internationale Anerkennung der Ereignisse von 1915 „keine außenpolitische Priorität mehr für Armenien“ sei. Wichtiger als die Anerkennung von 1915 als Genozid seitens fremder Parlamente seien die Beziehungen zu den direkten Nachbarn – also zur Türkei und Aserbaidschan.

„Die Vergangenheit ist vergangen, die Zukunft ist eine Chance“
Mit den Worten „Die Vergangenheit ist vergangen, die Gegenwart ist die Gegenwart, die Zukunft ist eine Chance. Geschichte besteht nicht aus unumstößlichen Wahrheiten, sie ist eine politische Wahrnehmung.“ zeigt sich Paschinjan nicht nur als Politiker, sondern auch als Politikwissenschaftler.
Er sieht ein historisches Zeitfenster für Frieden im Kaukasus und betont seine Entschlossenheit, es zu nutzen. Ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht die strategische Bedeutung: Armenien, ohne Zugang zum Meer, verfügt derzeit über drei geöffnete Grenzübergänge nach Georgien und nur einen nach Iran. Eine Normalisierung der Beziehungen mit der Türkei und Aserbaidschan wäre für Handel und Diplomatie von entscheidender Bedeutung.
Doch wie soll der von Baku geforderte Korridor zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan realisiert werden? Paschinjan dazu: „Natürlich sind wir bereit, Aserbaidschan eine Bahnverbindung bereitzustellen – erwarten aber im Gegenzug dasselbe für Armenien.“
Hoffnung auf Frieden
Als Paschinjan feststellt, dass der Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht in weiter Ferne liege, ist vielen von uns die Überraschung ins Gesicht geschrieben. „Ich glaube, dass absichtlich ein Nebel der Unsicherheit erzeugt wird, um den Frieden unsichtbar erscheinen zu lassen. Tatsächlich sind aber bereits wichtige Grundlagen geschaffen.“
2026 stehen in Armenien Parlamentswahlen an. Trotz der scharfen Opposition der ehemaligen Präsidenten Kočarjan und Sargsyan hält Paschinjan an seinem Kurs fest – auch wenn er dafür innenpolitisch stark angegriffen wird.
Nur wenige Stunden nach unserer Rückkehr in die Türkei folgt eine Nachricht, die das gesamte Machtgefüge im Kaukasus verändern könnte: Sowohl Aserbaidschan als auch Armenien verkünden, dass die Friedensverhandlungen abgeschlossen sind. Die letzten offenen Punkte des Abkommens seien geklärt worden. Die USA, Russland und die Europäische Union begrüßen die Einigung.
Noch vor einem Monat hätte man einen solchen Schritt für unmöglich gehalten. Doch nun gibt es mehr Grund denn je, vorsichtige Hoffnung für den Frieden im Südkaukasus zu haben.
Burak Tatari, Journalist.