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Landtagswahlen
Ein spätes Erbe – Thüringen und Sachsen nach der Wahl

Die Landtagswahlen offenbaren tiefe Risse in den traditionellen Machtstrukturen.
Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen

Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen offenbaren tiefe Risse in den traditionellen Machtstrukturen

© picture alliance / Geisler-Fotopress | Michael Kremer/Geisler-Fotopress

Wenn man in Sachsen und Thüringen nach den Landtagswahlen genau hinhörte, könnte man vielleicht ein andauerndes Rumpeln vernehmen. Das sind, könnte man denken, die ehemaligen langjährigen Ministerpräsidenten in beiden Ländern, Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel, die sich angesichts der aktuellen Ergebnisse im Grab umdrehen. Aber möglicherweise, könnte man da sagen, sind die auch der Beginn des heutigen Problems…

Beide Genannten haben, abgestützt durch satte Wahlergebnisse für die CDU, in den 90er-Jahren die Landesregierungen in Dresden und Erfurt angeführt, beide als „Landesväter“ anerkannt, der eine wurde sogar „König Kurt“ genannt. Ob man das heute von Bodo Ramelow oder perspektivisch Mario Voigt sagen würde? Oder von Michael Kretschmer?

Eine Erkenntnis aus den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ist die Erosion der ehemals starken CDU in diesen beiden Ländern über die lange Dauer. Eine andere Erkenntnis ist, dass Parteien der Bundesregierung – in mehr oder minder schwerer Form – in diesen beiden Ländern kein Bein auf die Erde bekommen. Auch wenn es die FDP am härtesten getroffen und fast zermahlen hat – die anderen beiden Ampelparteien haben ähnlich wenig zu bestellen.

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen vom vergangenen Sonntag geben also jede Menge Gelegenheit, mit Zahlen bei dem einen oder anderen für schlechte Laune zu sorgen:

  • In Thüringen wählte jede/r Dritte die AfD, die dabei dreimal so viele Stimmen wie SPD, Grüne und FDP zusammen holte;
  • In Thüringen verlor die bis dato Regierungspartei Die Linke noch mehr Prozentpunkte, als ihre Abspaltung BSW an Prozenten holte;
  • In Thüringen verloren SPD, Grüne und FDP zusammen -8,1 Prozentpunkte zur vorherigen Wahl; nur die SPD übersprang (knapp) die Fünf-Prozent-Hürde;
  • Die CDU konnte in Thüringen trotz der bundesweiten Diskussion um die drohende AfD-Mehrheit im Land nur 1,9 Prozentpunkte zum schlechten Ergebnis von 2019 hinzugewinnen;
  • In Sachsen verlor die regierende CDU trotz der bundesweiten Diskussion um die drohende AfD-Mehrheit leicht gegenüber der Wahl 2019;
  • Von den „Ampel“-Parteien im Bund verloren in Sachsen vor allem die Grünen und die FDP deutlich, die SPD leicht; hier schrammten die Grünen nur hauchzart am parlamentarischen Aus vorbei; hier stehen für alle drei Parteien zusammen -7,5 Prozentpunkte zu Buche;
  • Die Linke verlor mehr als die Hälfte ihrer vorherigen Wählerschaft in Sachsen und konnte nur durch die „Grundmandatsklausel“ ihren Wiedereinzug ins Dresdner Parlament bewerkstelligen;
  • Die AfD landete mit nahezu jeder dritten sächsischen Wählerstimme nur knapp auf dem zweiten Platz hinter der sächsischen Dauerregierungspartei CDU und verpasste nur sehr knapp eine Drittel-Sperrminorität im Landtag;
  • Das BSW wurde aus dem Stand drittstärkste Fraktion im Sächsischen Landtag;
  • Die FDP wurde am Wahlabend im Fernsehen für Sachsen als „kaum noch messbar“ bewertet.

Das Wahlergebnis kam – und da kann man auch mal die Umfrageinstitute loben – nahezu so wie erwartet. Bleibt in vielen Fällen allerdings die Frage nach dem „Warum?“, auf die sich mit Blick auf die Wahlanalysen von Infratest dimap interessante Erkenntnisse ergeben:

1. Warum wurde die AfD so stark?

Die AfD eroberte in Thüringen mit knapp einem Drittel aller Stimmen die führende Position. Sie konnte dabei vor allem bei den jüngsten Personengruppen ihr Ergebnis ausbauen, und dabei insbesondere bei den Männern unter 25 Jahren, wo gleich 46 Prozent der AfD ihre Stimme gaben. Sie stützt sich dabei überproportional auf die formal eher niedrig Gebildeten und auf diejenigen, die die wirtschaftliche Lage als „weniger gut“ oder „schlecht“ bewerten.

Eine überraschende Entwicklung zeigt sich diesmal bei der Frage nach der Wahlmotivation für die AfD: 52 Prozent geben an, die AfD aus Überzeugung gewählt zu haben – das sind satte 13 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl von 2019. Entsprechend deutlich weniger Menschen geben an, die AfD aus Enttäuschung über die anderen Parteien gewählt zu haben (40 Prozent, -13).

Ähnlich sieht die Sache in Sachsen aus: Auch hier gibt es die höchste Zustimmung und die deutlichste Steigerung bei den Unter-25-jährigen Männern, auch hier gibt es eine starke Basis bei den formal niedrig Gebildeten; und auch hier gibt es einen deutlichen Anstieg der Zahl derer, die die AfD aus Überzeugung wählen.

Es bestätigte sich am Wahltag eine Entwicklung, die sich schon in den Vorwahlumfragen bei Infratest dimap abzeichnete. Hier zeigten sich deutlich erhöhte Kompetenzbeimessungen für die AfD in den verschiedensten Politikfeldern, die dann letztendlich wohl auch die Wahlentscheidung begründeten.

Es scheint sich also, zumindest in Sachsen und Thüringen, eine Unterstützerbasis zu festigen, die die AfD-Politik genau so will, wie sie dargestellt wird. Und dazu kommt auch eine gewisse demokratietheoretische Nonchalance. In Thüringen 87 Prozent, in Sachsen 78 Prozent der befragten AfD-Anhänger sagten bei Infratest dimap: „Es ist mir egal, dass die AfD in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht.“

2. Warum konnte die CDU ihre Position nicht ausbauen?

Die CDU verlor gegenüber der vorherigen Landtagswahl in Sachsen 0,2 Prozentpunkte und legte in Thüringen um 1,9 Prozentpunkte zu. In Sachsen stellte sie den Ministerpräsidenten, in Thüringen wurde sie im Vorfeld als die einzige Kraft angesehen, die die Höcke-AfD in Schach halten könnte. Gemessen daran kann der über die Fernsehkanäle verbreitete Jubel in den CDU-Parteizentralen durchaus ein wenig erstaunen.

Ihre stärkste Wählerbasis und gute prozentuale Zugewinne fand die CDU in beiden Ländern bei den Über-60-Jährigen und bei denen, die die wirtschaftliche Lage als „sehr gut“ oder „gut“ bezeichnen, sowie bei der Berufsgruppe der Selbstständigen, wo in Thüringen 10 Prozentpunkte hinzugewonnen werden konnten (während die FDP genau dort 11 Prozentpunkte verlor). Dass dies aber keine Selbstverständlichkeit ist, zeigte sich in Sachsen, wo die CDU bei eben den Selbstständigen 7 Prozentpunkte verlor und hinter der AfD landete.

Interessant ist, dass es sowohl in Thüringen (-11) als auch in Sachsen (-12) deutliche Rückgänge bei denen gab, die aus Überzeugung CDU wählten. Möglicherweise lässt sich das aus der Vermutung erklären, dass auch vor dem Hintergrund der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung viele Menschen CDU gewählt haben, um einen Erfolg anderer Parteien zu verhindern – wobei dann überrascht, dass die Wahlergebnisse für die CDU nicht besser ausgefallen sind. So sagten 52 Prozent der CDU-Anhänger in Sachsen und 55 Prozent in Thüringen: „Ich wähle nur CDU, damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt.“

3. Eine Ohrfeige für die Ampel?

Nimmt man – etwas künstlich, weil gegen die Verhältnisse in der Landespolitik – die Ergebnisse der „Ampelparteien“ der Bundesregierung zusammen, so sieht man niederschmetternde Zahlen: In Thüringen gaben 10,4 Prozent, in Sachsen 13,3 Prozent ihre Stimmen entweder für SPD, Grüne oder FDP ab. In Thüringen verloren die drei Parteien zusammen -8,1 Prozentpunkte, in Sachsen -7,5 Prozentpunkte im Vergleich zur vorherigen Landtagswahl.

Man muss allerdings sehen, dass beide Länder für FDP und Grüne auch vorher schon ein „schwieriges Pflaster“ waren, seit 1990 mit fast schon grundsätzlichem Hoffen und Bangen an den Wahlabenden und auch mehrmaligem Scheitern. Auffälliger ist die mehr oder minder schleichende Erosion der SPD, die nach 2009 um zunächst rund 6, dann rund vier und nun rund 2 Punkte fiel und nun zum zweiten Mal nacheinander einstellig abschließt.

Zu konzedieren ist, dass alle drei Parteien nicht als Werkzeug gesehen wurden, um eine starke AfD zu verhindern – eher im Gegenteil. FDP und Grüne verloren in beiden Ländern die jüngsten und jüngeren Wähler, während die AfD dort triumphierte. Die FDP verlor massiv bei den Selbstständigen und kam dort nur auf 3 Prozent, während die AfD (30) und die CDU (32) gerade dort erfolgreich waren. Die ehemalige Arbeiterpartei SPD kam in ebendieser Berufsgruppe in Thüringen nur auf 4 Prozent und in Sachsen nur auf 3 Prozent der Stimmen, die AfD auf 49 bzw. 45 Prozent.

Natürlich dürfte hier die deutlich negative Bewertung der Arbeit der Bundesregierung eine Rolle spielen: In Thüringen sind nur 15 Prozent, in Sachsen 16 Prozent insgesamt zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung. Und 56 Prozent in Sachsen, 61 Prozent in Thüringen sagen: „Die Landtagswahl ist eine gute Gelegenheit, den Regierungsparteien in Berlin einen Denkzettel zu verpassen.“ Aber auch mit der Landesregierung äußert sich nur eine schwindende Minderheit zufrieden – in Thüringen 39 Prozent (-19 zur vorherigen Wahl), in Sachsen 44 Prozent (-11).

4. Regionale Identität als Entscheidungsfaktor?

Vielleicht sollte man bei der Interpretation der Ergebnisse viel mehr darauf abstellen, dass in zwei Ländern gewählt wurde, die sich selbst „Freistaat“ nennen, was ja möglicherweise auch etwas aussagt.

Infratest dimap hat vor der Wahl auch zum „Verhältnis Ost- / Westdeutschland“ gefragt. Hier sagten 76 Prozent in Sachsen und 78 Prozent in Thüringen: „Kultur und Mentalität in West und Ost sind und bleiben einfach unterschiedlich.“ 75 Prozent in Thüringen und 74 Prozent in Sachsen sagten: „Politik und Wirtschaft werden zu stark von Westdeutschen bestimmt.“ Und deutlich gestiegene 74 Prozent in Sachsen und 75 Prozent in Thüringen sagten: „Ostdeutsche sind an vielen Stellen immer noch Bürger zweiter Klasse.“ 54 Prozent in Thüringen und 53 Prozent in Sachsen sagen: „Ständig will mir jemand vorschreiben, wie ich zu leben und zu denken habe.“ Und besonders stark werden diese Auffassungen durchweg von den Anhängerschaften der AfD und des BSW vertreten.

Es geht also (auch) um Alleinstellung, um Distanzierung, um Identitätsfindung und –sicherung. Und dies lässt sich dann kombinieren mit einer weiteren Frage von Infratest dimap an die gleiche Gruppe: Auf die Frage, welcher Partei man zutraue, am besten die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten, nennen in Sachsen und in Thüringen 25 Prozent die AfD, die damit weit vor den übrigen Parteien liegt. Vor allem die Parteien der Bundesregierung fallen hier in beiden Ländern überdeutlich ab, worin man eine starke Begründung für den Wahlausgang sehen kann: Weder die SPD noch Grüne oder FDP erreichen zurzeit die ostdeutsche Seele – die sich eben stark ostdeutsch definiert und sich „vom Westen“ bevormundet fühlt. Ein spätes Erbe der frühen 90er?