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Krieg in Europa
Europa darf sich nicht spalten lassen

Ukraine

Durch russischen Beschuss beschädigte Gebäude im Zentrum des enteigneten Wowtschansk, wo derzeit Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt werden, Region Charkiw, Nordosten der Urkaine.

© picture alliance / abaca | Madiyevskyy Vyacheslav/Ukrinform

Während sich die russischen Truppen aus den besetzten ukrainischen Dörfern und Städten in den Regionen Cherson und Charkiw zurückziehen, werden dem Militär, den Gerichtsmedizinern und den Weltmedien die Ausmaße der russischen Kriegsverbrechen vor Augen geführt.

Im 21. Jahrhundert erhält der Kiewer Vorort Butscha eine gruselige Bedeutung, die im 20. Jahrhundert für Auschwitz festgelegt wurde. Seit April 2022 wurde „Butscha“ nicht nur zum Synonym für die geplante systematische Vernichtung von Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zur ukrainischen Gemeinschaft, sondern diente auch der Entlarvung des Zynismus der europäischen Eliten, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Augen vor dem Wesen des russischen Regimes und den Praktiken der modernen russischen Staatlichkeit verschlossen.

Bluff über „zivilisiertes Land“ und „Bedrohung durch den Westen“

Im Februar 2007, vor dem Auslaufen der zweiten (wie sich herausstellte, nicht der letzten, obwohl die Verfassung der Russischen Föderation dies nicht vorsah) Amtszeit des Präsidenten, kritisierte Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz scharf die einseitige Machtpolitik der Vereinigten Staaten. Er sagte, dass die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen nur auf der Grundlage der UN-Charta möglich sei. Er bestand darauf, dass Energieträger nicht als Waffe oder Erpressungsmittel gegen Verbraucher eingesetzt werden dürfen. Er versprach, eine freie und offene Marktwirtschaft in Russland zu schaffen, vor allem mithilfe Deutschlands.

Gleichzeitig leugnete Putin, dass die Opposition in Russland brutal unterdrückt wird; er gab nicht zu, dass die Rechte der Menschen in Tschetschenien systematisch durch Folter, Mord und Entführungen verletzt werden; er bestritt die Verwicklung in die Weitergabe von Raketentechnologie an den Iran und die Unterstützung seines Atomprogramms.

All dies erweckte den Eindruck, dass die Führung Russlands ein offenes und demokratisches Land aufbauen will, das eine verantwortungsvolle und berechenbare Politik betreibt und zu einer profitablen, milliardenschweren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn bereit ist.

Im Gegenzug wollte Putin nur „wenig“. Erstens die Umwandlung der NATO von einem Verteidigungsbündnis in eine politische Organisation, in der die europäischen Staaten ihre Politik unabhängig von den Vereinigten Staaten betreiben würden. Denn gerade die Vereinigten Staaten, so Putin, schüren durch die Stationierung ihrer Truppen auf dem Territorium der Staaten, die nach 1991 NATO-Mitglieder wurden, eine Bedrohung der russischen Souveränität und Spannungen in ganz Europa.

Zweitens wollte Putin nicht, dass die europäischen Staaten die Entwicklung der Beziehungen zu Russland von der Einschätzung des demokratischen oder autoritären Charakters des russischen Regimes abhängig machen. Sein Assistent Wladislaw Surkow erfand sogar einen speziellen Begriff – „souveräne Demokratie“ – um Putins Autoritarismus zu rechtfertigen und die Europäer mit der Aussicht auf Russlands langsame demokratische „Evolution“ zu verführen.

Respekt, Gleichbehandlung und Sicherheit: Forderungen eines Autokraten

Kurz gesagt, Putin forderte Respekt, Gleichbehandlung und Sicherheit. Sind das nicht dieselben Prinzipien, auf denen die NATO und die EU basieren?! Durch die erfolgreiche Manipulation dieser Werte und profitabler Wirtschaftsgeschäfte erreichte Putin seine Ziele.

Bis zum 24. Februar 2022 teilten viele europäische Politiker entweder die Meinung, dass Russland vertrauenswürdig sei, weil es sich wirtschaftlich weiterentwickelt und liberalisiert. Oder sie argumentierten, dass Russland einen Grund für Drohungen und eine Machtdemonstration habe, um seine Grenzen vor der NATO-Erweiterung zu schützen.

Putin zwang die europäischen Regierungen, die Augen vor der Ermordung von Zehntausenden Tschetschenen in den Jahren 1994-2007 zu verschließen. Es gelang ihm, eine Verurteilung und Bestrafung wegen offener Aggression gegen Georgien im Jahr 2008 zu vermeiden. Selbst 2014 gelang es ihm, Frankreich und Deutschland dazu zu bringen, seine Rolle als „Friedensstifter“ in der von ihm selbst geschaffenen „Ukraine-Krise“ und dem hybriden Krieg im Donbass anzuerkennen.

Tatsächlich deuteten die Fakten darauf hin, dass Russland mit dem Machtantritt Putins begann, sich in Richtung Autokratie zu bewegen. Es war jedoch nicht einmal eine Parteiautokratie wie in China, die einen internen Wettbewerb vorsah und sich auf ein ausgedehntes Netzwerk technokratischer Manager stützte, die auf diese oder andere Weise westliche Standards übernahmen.

Putin begann als Präsident, die Vertikale des KGB wiederherzustellen – der sowjetischen Geheimpolizei und des Geheimdienstes, die während ihrer gesamten Geschichte die demokratische Welt als einen existenziellen Feind und ein Ziel der Zerstörung betrachtete. Als Zögling des KGB wollte er natürlich Revanche für den Zusammenbruch der UdSSR, den er als seine Niederlage betrachtete.

Als Putin versprach, in Russland Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen, bluffte er. Sein Kalkül beruhte auf der Vorstellung von der Instabilität und Korruption der europäischen politischen und Geschäftseliten, die um hoher und stabiler Gewinne willen bereit sein werden, die „Exzesse“ der Behörden und die „Schwäche“ der russischen Zivilgesellschaft zu rechtfertigen.

Vernachlässigung seines Landes für eine perfide Vision

Als Putin auf die Bedrohung durch die NATO hinwies, suchte er im eigenen Land nur nach einer Rechtfertigung, um die Ausgaben für die Armee und die Verteidigungsindustrie ständig zu erhöhen, während er die Modernisierung der Sozial- und Verkehrsinfrastruktur in den meisten Regionen Russlands vernachlässigte. In den Außenbeziehungen belohnte Putin Führungspersönlichkeiten und Regierungen, die gemeinsame Ziele innerhalb der NATO nur langsam umzusetzen oder ihre nationalen Interessen im Gegensatz zu gesamteuropäischen oder amerikanischen Interessen förderten. Dies kann erklären, wie es so verschiedenen Politikern wie Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy, Gerhard Schröder, Robert Fico und Viktor Orbán gelang, langfristige Bündnisbeziehungen mit dem Kreml aufzubauen.

Trotz des Schocks über Russlands Lügen und Verbrechen, die die Aggression gegen die Ukraine begleiteten, benutzt Putin weiterhin aktiv den alten Bluff über das „normale Russland“ und droht mit Vergeltung für Verletzung der „russischen Sicherheit“, was die Kontrolle über ukrainische Gebiete bedeutet.

Putins Bluff ist seine Erklärung der besetzten ukrainischen Gebiete als russisch und die entsprechende Drohung, sie mit Atomwaffen zu verteidigen. Die russischen Truppen fliehen aus den Regionen Cherson und Donbass ohne Anzeichen einer Vorbereitung auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen.

Ebenso wenn Putin zwischen dem Rückzug von der Krim und dem Risiko, in einer nuklearen Konfrontation alles zu verlieren, wählen muss, wird er sich für den Rückzug entscheiden und seine Macht behalten. Denn die Krim ist der gleiche „integrale Bestandteil“ Russlands wie Cherson und die Oblast Charkiw, aus denen sich die Russen infolge militärischer Niederlagen zurückziehen.

Putin könnte jedoch einen gefährlichen Weg der Eskalation beschreiten, wenn in Europa weiterhin Stimmen laut werden, dass seine Eroberungen durch den Abschluss eines Waffenstillstands anerkannt werden müssen. Die Aufrufe des Kremls zur Verhandlungsbereitschaft zielen darauf ab, unter den europäischen Politikern Unsicherheit über die Ziele Russlands zu verbreiten. Dieses Manöver wird durchgeführt, um alle zu zwingen, plötzlich die Augen vor Massenhinrichtungen, Folterlagern und der Bombardierung friedlicher ukrainischer Städte zu verschließen, um Zweifel daran zu säen, dass Russland einen Krieg führt, der auf die Vernichtung einer ganzen europäischen Nation gerichtet ist.

Putin bietet erneut an zu glauben, dass sichere Beziehungen mit dem von ihm geführten Russland möglich sind, wenn seine Forderungen berücksichtigt werden. Wenn die Debatte in Europa nach der von Putin auferlegten Logik wieder aufgenommen wird, wird er mit allen Mitteln des Terrors zur Spaltung des Kontinents und innerhalb der einzelnen Staaten in die Lager der „kompromisslosen“ und „gemäßigten“ führen. Und ohne Solidarität in Europa wird es für Russland viel einfacher sein, den Krieg ungestraft und rücksichtslos fortzusetzen. Auch weit über die Ukraine hinaus.

Russland hybride Mittel um Europa zu spalten

Es geht um den Handel mit Erdöl, Kohle und Erdgas. Seit Anfang 2021 weigerte sich das russische Unternehmen Gazprom, über die vertraglich vereinbarten Mengen hinaus Gas nach Europa zu liefern, was künstlich zu Börsenspekulationen und Preissteigerungen beitrug. Dies hatte schmerzhafte Auswirkungen auf die Ausgaben der Haushalte für kommunale Dienstleistungen. Es führte auch zu höheren Verbraucherpreisen aufgrund des teureren Stroms, der durch die Verbrennung von russischem Gas und Heizöl erzeugt wurde. Vor dem Hintergrund öffentlicher Unzufriedenheit mobilisieren die russischen Geheimdienste die russische Diaspora zu spektakulären Protesten in Deutschland und der Tschechischen Republik und bringen die These von der „Schädlichkeit“ der antirussischen EU-Sanktionen bei.

Und solche Aktionen haben eine politische Wirkung. In Frankreich kritisierte Marine Le Pen aktiv den Verzicht auf die russischen Energieträger und versprach, im Falle ihrer Wahl den Bezug von Öl aus Russland aufrechtzuerhalten. Auch in Italien wehrten sich die Parteien „Lega“ und „Forza Italia!“, die Teil der Regierungskoalition wurden, gegen Sanktionen, die der italienischen Industrie schaden. In Deutschland äußerten die Oppositionsparteien „Alternative für Deutschland“ und „Die Linke“ noch offenere Thesen über die Notwendigkeit einer „Verständigung“ mit Russland, um der Energieträger willen. Der Kreml beobachtet solche Prozesse genau, und sie überzeugen ihn davon, dass eine solche Spaltungspolitik die gewünschten Ergebnisse bringt. Die russischen Bemühungen werden gerade in diesem Winter besonders gefährlich sein.

Die Ideologie der „russischen Welt“ und der Mythos des „Großen Sieges“

Der russische Präsident rechtfertigt seit dem Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 jedes Jahr seine aggressive Eroberungspolitik mit der besonderen historischen Mission Russlands. Sie besteht in der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit – der Grenzen des russischen Staates, die alle Träger „traditioneller russischer Werte“ vereinen sollen. Diese sind die russische Sprache, der orthodoxe Glaube, die Erziehung in den Traditionen der russischen Kultur und Literatur. Der Kreml nennt diese bizarre Kombination die Ideologie der „russischen Welt“. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die russische Diaspora derzeit sehr aktiv in ganz Europa manifestiert, von Italien und Deutschland bis Lettland und Finnland, schafft dies aus Sicht der russischen Führung einen ausreichenden legitimen Grund, Maßnahmen direkter und hybrider Aggression gegen neue Länder zu verbreiten.

Und Putin spricht ständig von der Unvermeidbarkeit einer „multipolaren Welt“, in der Russland einer der „Pole“ sein wird. Während das Schicksal Europas seiner Meinung nach durch den übermäßigen amerikanischen Einfluss ruiniert wird. Deshalb beruft er sich häufig auf die Konferenz von Jalta im Jahr 1945, die Stalins Russland zum Besitzer der Hälfte des europäischen Kontinents machte, während die andere Hälfte von den Alliierten unter Führung der Vereinigten Staaten kontrolliert wurde. In den Beziehungen zu Europa will sich Putin nicht nur als „Vetospieler“, als Anführer einer „Großmacht“ sehen, die zu einem engen Kreis von ihresgleichen (den USA und der VR China) gehört, die einen entscheidenden Einfluss auf die Weltpolitik haben, sondern als Hegemon. Als Herrscher eines Siegerstaates, dem die anderen für ihre Sicherheit und Existenz dankbar sind. Deshalb sagt er trotz der Niederlagen in der Ukraine weiterhin: „Wir haben es noch nicht wirklich angefangen“. Offensichtlich hätten Hitler und Stalin dasselbe sagen können, als sie im September 1939 Polen überfielen und teilten und sich auf neue Konflikte vorbereiteten.

Bislang hat diese Geschichte eine geringe Chance, sich zu wiederholen. 

Petro Burkovskiy, Exekutivdirektor von Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation.