Lateinamerika
Lichtblicke in langer Nacht
In Argentinien finden Ende Oktober Präsidentschaftswahlen statt. Keiner der beiden Favoriten ist ein Liberaler, weder Amtsinhaber Mauricio Macri noch sein Herausforderer, der Peronist Alberto Fernández. Trotzdem könnte den Ideen des Liberalismus nach der Wahl eine Schlüsselrolle zufallen, unabhängig davon, wie die Abstimmung ausgeht. Die argentinische Hauptstadt Buenos Aires war indes Tagungsort von RELIAL, der Vereinigung lateinamerikanischer liberaler Parteien und Organisationen mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Liberalen geht es in Argentinien wie in vielen Ländern der Welt: Es fehlt eine politische Partei mit weltanschaulich stringentem Programm, landesweiter Präsenz und Erfolgsgeschichten an der Wahlurne. Was es allerdings gibt, sind Think-Tanks und andere, eher informelle Gruppierungen mit liberaler Grundhaltung, und das in mittlerweile fast allen Provinzen des Landes.
Diese liberalen Stimmen erfreuen sich mittlerweile einer hohen medialen Aufmerksamkeit. Das liegt natürlich auch an der desaströsen wirtschaftlichen Lage, die zuvorderst den zwölf Jahren des sogenannten Kirchnerismus anzulasten ist, einer linkspopulistischen Spielart des Peronismus, die mit den Namen Nestor und Christina Kirchner verbunden ist. Nestor Kirchner war Präsident in den Jahren 2003-2007, seine Ehefrau und Nachfolgerin blieb gleich zwei Wahlperioden im Amt, von 2009 und 2017.
Mit viel Geduld und hohem intellektuellem Anspruch
Auch Mauricio Macri, der gegenwärtige Präsident, und seine Regierungsmannschaft blieben vor Kritik von liberaler Seite nicht verschont. Der Hauptvorwurf dabei ist, dass sie, obwohl 2015 eigentlich mit einem Reformversprechen angetreten sind, mit zahlreichen etatistischen und planwirtschaftlichen Maßnahmen beinah nahtlos an die Politik ihrer kirchneristischen Vorgänger angeknüpft haben. Dennoch will Macri an den gegenwärtigen ökonomischen Problemen nicht schuld sein, während die Opposition darum bemüht ist, alle Verantwortung bei ihm und seiner Mannschaft zu suchen.
Es sind namhafte Liberale wie der vormalige Wirtschafts- und Verteidigungsminister Ricardo López Murphy, der in den Umfragen eher abgeschlagene Präsidentschaftskandidat José Luis Espert, die medial stark präsenten Think-Tank-Vertreter Augustín Etchebarne und Aldo Abram oder der Radiomoderator Roberto Cachanosky, die die wirtschaftlichen Fehler der Kirchner-, aber eben auch der Macri-Regierung mit viel Geduld und hohem intellektuellen Anspruch immer wieder öffentlich benennen.
Auf der politischen Agenda der nächsten Regierung
In den zwölf Jahre der Kirchner-Herrschaft haben linke Ideen die kulturelle Hegemonie erlangt. Die Macri-Regierung ist dieser Entwicklung bislang eher mit Gleichgültigkeit begegnet. Eine liberale Gegenöffentlichkeit hat sich vor allem in den sozialen Netzwerken gebildet. Hier erreichen entsprechende Ideen und Positionen vor allem die nachwachsende Generation des Landes, die der Trägheit des peronistischen Mainstreams überdrüssig ist.
Die Wirtschaftskrise, deren Bekämpfung die To-do-Liste der nächsten Regierung bestimmen wird, bietet eine Möglichkeit für einen radikalen politischen und ökonomischen Wandel. Die aktuelle Regierung hat weder die Kraft noch den Mut gefunden, eine liberale Reformpolitik zu formulieren und umzusetzen, wie es nach dem Ausverkauf liberaler Werte und Ideen in den Kirchner-Jahren im Grunde unerlässlich gewesen wäre.
Völligen Zerfall à la Venezuela verhindern
Unabhängig davon, ob das nächste Kabinett noch von Macri oder schon von Fernández angeführt wird: Es steht unter enorm hohem Erwartungsdruck. Die Schuldenkrise, das Haushaltsdefizit, die galoppierende Inflation, die Devisenflucht, der Mangel an Investitionen, der Verfall der Landeswährung, des Pesos: Wenn die neue Führung dem Land nicht kurzfristig eine Schocktherapie verschreibt, wird sich die Wirtschaftskrise weiter verschärfen – mit der Konsequenz eines politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Zerfalls à la Venezuela.
Soweit muss es nicht kommen. Der Weg der Schocktherapie ist der wahrscheinlichere und würde auf das Repertoire liberaler Reformideen zurückgreifen. Möglicherweise gelingen dann auch die Gründung und Konsolidierung einer liberalen Partei im oben beschriebenen Sinne: mit klarer programmatischer Kontur, landesweiter Ausstrahlung und Erfolgserlebnissen an Wahltagen. Das Potenzial dafür ist da. Das zumindest hat der Wahlkampf des Jahres 2019 gezeigt.
Dr. Lars-André Richter ist Projektleiter Argentinien und Paraguay, Marcelo Duclos ist Programmassistent und Isabel Gehrig ist derzeit Praktikantin im FNF-Büro in Buenos Aires.