175. Geburtstag von Helene Lange
„Menschenrechte für die Frau“!
Am Anfang standen die Farben der neuen Zeit: Schwarz-Rot-Gold in den Tagen der Revolution von 1848. So hat es Helene Lange jedenfalls selbst gesehen, denn geboren wurde sie am 9. April 1848 in unruhiger, von freiheitlichen Hoffnungen erfüllter Zeit. Und in der Tat: Sie wurde eine der wichtigsten Persönlichkeiten der bürgerlichen Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Weg dorthin war steinig, Lange aber beschritt ihn zäh und ausdauernd – und erfolgreich. Ein Weg, der über mühevolles Selbststudium, praktische Lehrtätigkeit und unermüdliche Vereinsarbeit führte, der die Herausgabe von Zeitschriften, regelmäßiges Publizieren, den Aufbau von Bildungseinrichtungen, unablässig engagiertes Diskutieren und Verhandeln erforderte und sie schließlich an die Spitze der Bewegung und ins Parlament brachte.
Nach dem frühen Tod der Eltern wurde die noch nicht volljährige Helene Lange aus dem liberalen Oldenburg ins süddeutsche Eningen ins Pfarrhaus gegeben. Anstelle der im elterlichen Haus gewohnten emanzipierten Atmosphäre machte sie nun in Gesellschaft und Schule die neue Erfahrung, dass sich Mädchen „mit Surrogaten zu begnügen haben, während den jungen Männern die geistige und berufliche Welt offenstehe“. Ihre „Geburtsstunde als Frauenrechtlerin“, so resümierte sie später diese Zeit. Denn der Zugang zur höheren Bildung und das Erlernen des Lehrberufes wurden ihr versagt. Sie schult sich autodidaktisch, zieht schließlich 1871 nach Berlin – einem Kristallisationspunkt der anwachsenden Frauenbewegung – und absolviert wenige Monate darauf die Abiturprüfung. Zugleich knüpfte sie rege Kontakte zu liberalen Kreisen und Akteurinnen der bürgerlichen Bildungs- und Emanzipationsbewegung, etwa Hedwig Heyl, Franziska Tiburtius und Henriette Schrader-Breymann.
„Magisches pädagogisches Talent“
Über 15 Jahre arbeitete sie an einer Schule mit Lehrerinnenseminar, das sie zuletzt auch selbst geleitet hat – sie habe ein „magisches pädagogisches Talent“, wurde ihr nachgesagt. In diesen Jahren von 1876 bis 1891 lernte sie die prekäre Situation junger Frauen und deren fehlende Chancen zur qualifizierten Bildung kennen. Sie initiierte die Neufassung der Lehrinhalte und Ausbildung zur beruflichen Tätigkeit auch außerhalb der Familie. Zugleich versuchte sie 1887, gemeinsam mit weiteren in der Bewegung engagierten Frauen, den Missständen mit einer Petition an das Preußische Unterrichtsministerium abzuhelfen. Ohne Erfolg – die von ihnen geforderte Reform des höheren Mädchenschulwesens wurde nicht einmal im Abgeordnetenhaus diskutiert. Die von Helene Lange verfasste Begleitschrift zur Petition, die als „Gelbe Broschüre“ berühmt gewordene Ausarbeitung „Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung“ umfasste zwei wesentliche Forderungen: Erstens sollten Mädchen größeren Anteil an der wissenschaftlichen Bildung in der Mittel- und Oberstufe erhalten, zweitens sollte der Staat „Anstalten zur Ausbildung wissenschaftlicher Lehrerinnen für die Oberklassen“ einrichten. Die Schulbildung für Mädchen sollte qualitativ so gestaltet werden, dass sie ein anschließendes Studium, auch an der Universität, ermöglichte.
Nach dem Misserfolg zögerte die engagierte Kämpferin für bessere Bildung nicht lange und griff zur Selbsthilfe. Sie führte „Realkurse“ (später Gymnasialkurse) für Mädchen ein, mit denen diese eine allgemeine Bildungsgrundlage für praktische – gewerbliche und kaufmännische – Berufe sowie für die Universität erwerben sollten. 1896 legten die ersten Abiturientinnen erfolgreich ihre Prüfung ab – in der Öffentlichkeit erregt diskutiert und mit eminenter Vorbild- und Signalwirkung. Genau darauf hatte Lange gezielt: mittels praktischem Handeln den Gestaltungsraum für Frauen zu erweitern, bessere Bildung als Schlüssel zur Selbstbestimmung. Die Frauenbewegung war für Helene Lange wesentlich auch eine pädagogische Bewegung, wobei Ausbildung und Studium den Zugang der Frauen in eine gleichberechtigte Welt weisen sollten.
Führungspersönlichkeiten der Frauenbewegung
Schnell wurde Lange zu einer der Führungspersönlichkeiten der Frauenbewegung, wie in der nachfolgenden Generation die ebenfalls liberalen Gertrud Bäumer und Marie-Elisabeth Lüders. Einem ersten prominenten Auftritt hatte Lange 1889 beim Frauentag des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, als sie die Forderung nach „Menschenrechten für die Frau“ erhob. Wenige Jahre später war sie bereits gut vernetzt und in entscheidenden Verbänden in führender Position: seit 1890 Gründungsvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins (ADLV), 1894 des Bundes Deutscher Frauenvereine. Die Führung des ADLV hatte Helene Lange drei Jahrzehnte inne, bis zu ihrem Rückzug aus der aktiven Politik in der Weimarer Republik. 1933 schließlich löste sich der Verein auf, weil er sich nicht gleichschalten und seine jüdischen Mitglieder ausschließen wollte.
Weiteren Einfluss sicherte die von Lange seit 1893 herausgegebene Zeitschrift „Die Frau“. Die – wie es hieß – „Monatsschrift für das gesamte Frauenleben“ fungierte als Kommunikationsplattform der Frauenbewegung und ihrer Anhängerinnen. Insgesamt bildeten die Jahrzehnte nach 1890 einen Aufbruch in die Moderne. Die Bewegung professionalisierte sich, und Lange hatte daran entscheidenden Anteil. Beispielhaft zeigte sich dies bei der 1908 erfolgen Preußischen Schulreform. Neben anderen Akteurinnen war auch Lange in die Reformkommission berufen worden, in der ihre Forderung nach einem Realgymnasium für Mädchen erfüllt wurde. Allerdings scheiterte sie mit dem Vorschlag, Frauen als Leiterinnen der Mädchenschulen einzusetzen, an der Männerphalanx – am „verletzten Mannesgefühl“ und den „bedrohten Berufsinteressen“ der Lehrer, wie sie vermutete.
Liberale Vorkämpferinnen der Frauenrechte
Keine Frage: Die liberalen Vorkämpferinnen der Frauenrechte um Helene Lange, Gertrud Bäumer und Marie-Elisabeth Lüders mussten zäh und mühsam um emanzipatorische Fortschritte ringen. Diese gelang allmählich im Erwerbsleben und in der Bildung deutlich langsamer allerdings auf dem Feld der Politik: 1908 bildete die Reform des Vereinsgesetzes immerhin den Auftakt zur parteipolitischen Betätigung von Frauen. Lange ging, wie die meisten in der bürgerlichen Frauenbewegung zur linksliberalen Freisinnigen Vereinigung, insbesondere inspiriert durch Friedrich Naumann. Noch im gleichen Jahr wurde Lange in den Vorstand der Berliner Linksliberalen gewählt. Insgesamt aber blieben die Erfolge von Frauen auch in den linksliberalen Parteien übersichtlich. Erst mit dem Frauenwahlrecht am Ende des Ersten Weltkriegs änderte sich dies: Unter den bürgerlichen Parteien hatte die Reichstagsfraktion der Deutschen Demokratischen Partei den größten Frauenanteil, und in der Hamburger Bürgerschaft übernahm 1919 die gerade für die DDP gewählte Helene Lange als Alterspräsidentin den Vorsitz.
Krankheitsbedingt zog sich Lange danach aus der politischen Öffentlichkeit zurück. In der Weimarer Republik erlebte sie noch zahlreiche Würdigungen, so ehrte die Universität Tübingen sie 1923 als „Vorkämpferin für die Eingliederung der Frau in die Volkswirtschaft“. Nach Langes Tod im Mai 1930 glich die Trauerfeier, bei der auch Theodor Heuss sprach, einem Staatsbegräbnis. Ihr Sarg war, so der Wunsch Langes, mit den Farben der liberalen, freiheitlichen Demokratie bedeckt: Schwarz-Rot-Gold. Wenn das Endziel der Frauenbewegung einmal erreicht sei, hatte die Kämpferin für Frauenrechte einige Jahre zuvor geschrieben, werde es „kein führendes Geschlecht mehr geben, sondern nur noch führende Persönlichkeiten“.